Die Signatur des Mörders - Roman
sich auf den Beinen zu halten?«, wollte Myriam wissen.
»Die ersten fünf bis sechs Schläge mit Sicherheit.«
»Wie viele Schläge waren es insgesamt?«
»In jedem Fall zu viele.«
»War sie bereits tot, als er aufhörte?«
»Nein, das glaube ich nicht. Das Blut ist langsam aus ihr herausgesickert.«
»Du meinst, sie hat stundenlang dort gelegen?«, fragte Myriam.
»Ja.«
»Okay, also doch so eine Sado-Maso-Nummer. Sie war’ne Prostituierte. Wagner hat recht.« Aus irgendeinem Grund klammerte sich Ron an diese Theorie, die ihn zu beruhigen schien.
»Nun, da gibt es eine winzige Sache, die deiner These widerspricht.« Ein bitteres Lächeln trat in Veits Miene, als er nun an das Kopfende des Tisches trat.
»Welche Sache?«
»Sie war noch - Jungfrau.«
Veits Aussage ließ die Anwesenden verstummen. Nur das leise Surren des grellen Lichts über dem Autopsietisch war zu hören.
»Jungfrau?«, wiederholte Ron ungläubig.
»Jungfrau«, nickte Veit.
»Andererseits«, bemerkte Henri nach einigen Minuten, »muss es schließlich nicht zum Geschlechtsverkehr kommen, um sexuelle Befriedigung zu erreichen, oder? Manche Prostituierte vollziehen keinen Geschlechtsverkehr mit ihren Freiern.«
»Ich weiß nicht«, erwiderte Ron, »aber deine Theorie von der jungfräulichen Hure scheint mir zu weit hergeholt.«
Ratlosigkeit hing im Raum, verbunden mit unschlüssigem Schweigen, bis Veit sich an Henri wandte: »Machen wir weiter! Hilfst du mir? Wir müssen sie umdrehen.«
Gemeinsam drehten sie das Mädchen auf die Brust. Anschließend teilte Veit die langen vollen Haare in der Mitte auseinander: »Seht euch das an: Es ist das Wichtigste, das Entscheidende.«
Sie traten einen Schritt näher. Myriam konnte Henris Atem spüren. Sein Rasierwasser riechen.
»Ich kann nichts sehen«, murmelte Ron ungeduldig. Veit deutete auf eine dunkle, von Blut verkrustete Stelle am Hinterkopf, direkt oberhalb des Nackens. Der Anblick erinnerte Myriam an die Eintrittsstelle bei einem Genickschuss.
»Was ist das?«, hörte sie Ron fragen. Niemand antwortete. Das Surren der Lampe setzte wieder ein.
»Ich habe es fotografiert.« Veit ließ die Haare zurückfallen. »Eingescannt und vergrößert.« Er ging zum Sideboard, wo er nach einem DIN-A4-Blatt griff, das er ihnen über Helena Baarovas Körper hinweg reichte. Henri nahm es ihm aus der Hand. Sie beugten sich zu dritt darüber.
»Ein Kreuz?«, fragte Ron.
»Sieht eher wie ein X aus«, widersprach Henri.
»Er hat ein besonders scharfes Messer benutzt, um das Zeichen in die Haut zu ritzen«, erklärte Veit.
»Was hat das zu bedeuten?«, fragte Myriam fast flüsternd. Eine leise Ahnung erfasste sie, eine dunkle Befürchtung stieg in ihr hoch. Myriam konnte den Blick nicht von dem Blatt abwenden. Sie schluckte.
»Es wird weitere Opfer geben«, sagte Veit bestimmt.
»Wie kannst du dir so sicher sein?«
»Er hat das Zeichen in die Haut geschnitten, nachdem das Mädchen tot war.« Für einen kurzen Moment stockte er, dann fügte er hinzu: »Er wollte wohl in ihrem Nacken seine Signatur hinterlassen.«
10
Jess gehörte zu denen, die auf jeglichen Schutz durch das Gesetz verzichteten. Die lieber umkamen, als der Polizei oder einer Staatsanwältin in einem dunkelbraunen Rock und einem beigefarbenen Kaschmirpulli über der weißen Bluse zu vertrauen. Deshalb behandelte sie die drei vor ihr mit der Verachtung, die sie verdienten, und spöttisch beobachtete sie, wie die Staatsanwältin an ihrem Ausschnitt herumnestelte, um ja nichts von dem flachen Busen zu zeigen, der nicht mehr wert war als ein Kuchen, bei dem das Backpulver fehlte.
Nein, ihr Beruf machte ihr keinen Spaß, aber sie hatte gelernt, wie Männer tickten. Sie wusste, was die zwei vor ihr von ihr hielten. Sie, Jess, erinnerte sie mit jeder Bewegung daran, dass sie »Männer« waren, und gleichzeitig fürchteten sie, sie könnten sich allein vom Anblick einen Tripper holen.
Jess stöckelte vor ihnen auf hohen Absätzen in den Autopsiesaal. Sie würde keine Schwäche zeigen. Auch wenn der Geruch ihr den Atem nahm und das Desinfektionsmittel im Hals kratzte. Sie wagte kaum Luft zu holen und entschied sich schließlich, durch den Mund zu atmen. Zögernd näherte sie sich dem Stahltisch, auf dem sie Helenas nackten Körper, bis zum Kinn mit einem hellgrünen Tuch bedeckt, liegen sah. Einige Minuten stand sie lediglich da und betrachtete die Freundin. Dann streckte sie zögernd die Hand aus. Jemand sagte nein, doch sie kümmerte
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