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Die Signatur des Mörders - Roman

Titel: Die Signatur des Mörders - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilhelm-Goldmann-Verlag
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düster. Er war selbst krank. Sie mochte diesen Kollegen besonders, auch weil er sich in den Auseinandersetzungen mit Hillmer regelmäßig auf ihre Seite stellte. Wenn er in einem Jahr in Pension ging, würde das ihre Stellung bei Gericht erheblich schwächen. Außerdem bewunderte sie seine ruhige Überlegenheit. Myriam wünschte sich, sie besäße diese Gelassenheit ebenfalls, doch immer wieder erklärte Kellermann: »Dazu bist du noch zu jung, Mädchen. Das machen die Jahre, nicht der Wille.«
    »Stimmt etwas nicht?«, fragte sie jetzt. »Ist etwas mit deiner Familie?«
    Er schüttelte den Kopf, dann erhob er sich langsam und kam um den Schreibtisch herum, um sie zu begrüßen. Er sah vollkommen abgespannt und niedergeschmettert aus. Mit einer Handbewegung deutete er auf einen Stuhl, kehrte zu seinem Platz zurück und setzte sich. »Irgendwann ist Schluss«, sagte er. »Und man muss akzeptieren, dass man am Limit ist, dass man das alles nicht mehr erträgt, dass man den Blick verliert, für das, was richtig ist, was falsch.«
    Verwirrt nahm Myriam Platz. Sie hatte Kellermann noch nie so hoffnungslos erlebt.
    »Aber du...«, er sah sie bestimmt an, »du kannst noch an deine Grenzen gehen. Du willst es sogar.Weißt du, dass ich dich darum beneide?«
    Myriam schüttelte den Kopf.
    Er nickte. »Ja, das tue ich. Menschen wie dich gibt es viel zu selten, gerade in der Justiz, wo sich alle einbilden, sie seien Halbgötter.« Er lachte auf. »Dabei sind sie alle Feiglinge, die den Schwanz vor Hillmer einziehen.«
    »Ich habe keine Ahnung, wovon du sprichst.« Myriam schüttelte verständnislos den Kopf.
    Seine Stimme zitterte ein wenig, als er fortfuhr: »Ja, ich gebe zu, dass ich mich alt fühle. Ich kann das Kleingedruckte in Verträgen nicht mehr entziffern, und ich habe nicht zum ersten Mal Namen aus den Akten falsch zitiert. Auch dass ich im Gerichtssaal das Gefühl habe, ich brauchte ein Hörgerät, um den Zeugenaussagen zu folgen, damit kann ich leben. Aber... inzwischen versetzt mir jeder Anruf der Ermittler einen Schrecken, ich bekomme Schweißausbrüche beim Anblick von Tatortfotos...« Er schüttelte den Kopf. »Du kennst die Fälle, die in all den Jahren hier auf meinem Schreibtisch lagen. Die Prostituierten im August 1994. Fünf Frauen. Tot. Erschossen.« Er machte eine kurze Pause. »Ich habe wirklich alles gesehen, alles erlebt. Ich glaubte, nichts könnte mich mehr schocken. Aber...«
    »Worauf willst du hinaus?«
    Er zögerte, holte tief Luft. »Wir hatten gestern einen Anruf aus Prag.«
    »Einen Anruf?«
    »Der Besitzer eines Antiquariats. Er hat von Helena Baarovas und Justin Brandenburgs Tod in den tschechischen Nachrichten gehört.«
    »Und?«
    »Daraufhin hat er uns das geschickt!«
    Kellermann zog aus einer Aktenmappe einige Blätter, die er ihr über den Schreibtisch reichte. Sie warf einen Blick darauf, las die ersten Worte.
    Der Richter erschrak ob des bleichen Gesichts des Hungerkünstlers, der mächtig hervortretenden Rippen und dieses verdunkelten Blicks, der aus den Tiefen seines Innersten emporzublicken schien.
    »Was soll das?«
    »Lies weiter!«
    Schweigen legte sich über den Raum, während Myriam versuchte, einen Sinn in dem zu erkennen, was sie las. Erst allmählich wurde ihr klar, dass dieser Text eine tiefe Grausamkeit offenbarte. Das Seltsame, das seit dem Tode von Helena Baarova in der Luft hing, diese Atmosphäre von Unwirklichkeit, kam in diesen Worten zum Ausdruck.
    Sie würden weinen, ohne zu wissen, warum.
    Dazu verurteilte der Richter die Lebenden.
    Denn das Leben ist die Strafe, nicht der Tod.
    Als sie zu Ende gelesen hatte, holte sie tief Luft, schwieg einige Sekunden und fragte schließlich: »Was hat das mit Hus’ Verhaftung zu tun?«
    Kellermann hob die Hand. »Da lag dieses Buch von Kafka neben Helena Baarovas Leiche, und es war an einer bestimmten Stelle aufgeschlagen, was wir für Zufall hielten.«
    Zufall, hatte Henri gesagt, ist nur eine Verkettung von losen Handlungssträngen einer Geschichte, deren Zusammenhang uns unerklärlich erscheint.
    »Ich erinnere mich«, nickte Myriam. »Es handelte sich um eine seiner Erzählungen.«
    »Genau. Der Titel lautet Auf der Galerie.«
    »Was ist damit?«
    »Dasselbe Buch haben wir auch am Tatort neben Justin Brandenburg gefunden. Nur diesmal war eine andere Stelle aufgeschlagen, und zwar die Erzählung Ein Hungerkünstler.«
    »Ein Hungerkünstler?« Myriam hatte nie von diesem Text gehört, aber hatte sie je etwas von Kafka

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