Die Signatur des Mörders - Roman
mit einem tiefen Seufzer, sodass Myriam augenblicklich fragte: »Gott sei Dank?«
Frau Kramer reichte Ron den Zucker. Ihr Gesichtsausdruck war konzentriert. Sie fürchtete, etwas Falsches zu sagen. Nicht weil sie ihnen misstraute, sondern weil sie den Jungen instinktiv schützen wollte. Dann kam sie offenbar zu dem Entschluss, kein Blatt vor den Mund zu nehmen. »Na ja, bisher hatte Simon eigentlich nie einen Freund.«
»Keinen bestimmten?«, fragte Ron. »Oder meinen Sie, gar keinen?«
»Er war immer der typische Einzelgänger. Ein Einzelkind eben. Andererseits verbringt er die meiste Zeit in der Schule. Vielleicht hat er dort Freunde, aber vor David hat er nie jemanden mit nach Hause gebracht.«
Sie wollte noch etwas sagen, schwieg jedoch.
»Was«, fragte Ron, »was denken Sie?«
»Vielleicht verstehen sich die beiden deswegen so gut, weil sie beide einsam sind. Davids Vater war nicht viel zuhause, und seine Mutter ist, soweit ich weiß, tot.«
»Hat David Ihnen das erzählt?«
»Nein. Simon. Davids Mutter ist wohl in Prag von einer Brücke gesprungen. Vor Davids Augen. Ich frage Sie, welche Mutter macht so etwas?« Entrüstung trat in ihre Stimme: »Lässt seine Hand los und springt. Der Junge tut mir wirklich leid. Er hat ja mehr Zeit hier verbracht als mit seinem Vater. Professor Hus war ja so gut wie nie zuhause.«
»Simons Eltern scheinen sehr tolerant zu sein«, forschte Myriam nach. »Schließlich ist David für sie ein Fremder. Trotzdem haben sie ihn nach dem Selbstmord seines Vaters aufgenommen.«
»Tolerant? Nun, es ist schließlich praktisch, wenn ständig ein Freund hier ist, dann muss man sich ja nicht mit dem eigenen Kind beschäftigen.« Das Letzte sagte sie mit einem bitteren Lächeln.
»Wollen Sie damit sagen, Simons Eltern kümmern sich nicht ausreichend um ihren Sohn?«, hakte Ron nach.
»Nein, wie kommen Sie denn darauf?« Frau Kramer wirkte plötzlich ängstlich. Ihr Gesichtsausdruck wurde ablehnend. Sie griff rasch nach der Kanne Kaffee und begann erneut einzugießen, obwohl Rons Tasse noch zur Hälfte gefüllt war.
»Aber der Junge ist wohl viel auf sich alleine gestellt?«, bemerkte Myriam.
Frau Kramer holte tief Luft. »Na ja, er ist bald sechzehn. Da muss man ja nicht mehr Zeit mit ihm verbringen als unbedingt notwendig.«
»Aber?«
»Was?«
»Sie haben es zwar nicht gesagt, das Aber steht Ihnen jedoch ins Gesicht geschrieben«, sagte Ron mit einem charmanten Lächeln.
»Nun, ich habe keine Kinder. Und ich bin hier nur die Haushälterin. Es steht mir nicht zu, jemanden zu kritisieren, aber eine Scheidung ist für einen Jungen in der Pubertät nicht gerade etwas, das sein Vertrauen ins Leben stärkt, oder? Noch dazu, wenn die Eltern …«, sie stockte kurz, »vorsichtig formuliert, sich im Unfrieden getrennt haben.«
»Es gab also Streit«, stellte Ron fest.
»Das ist über ein Jahr her. Ich meine nur, es war gut, dass David zu diesem Zeitpunkt in Simons Klasse kam. Das hat ihm geholfen. Das habe ich auch dem Jugendamt erzählt, wie gut die beiden sich verstehen. Ich habe dabei vor allem an Simon gedacht.«
»Das Jugendamt hat mit Ihnen gesprochen?«, fragte Ron überrascht.
»Ja, schließlich bin ich diejenige, die sich in der Hauptsache um die beiden kümmert.«
»Ist Ihnen vor oder nach diesem Samstag, als das Mädchen gefunden wurde, irgendetwas an den beiden aufgefallen?«
Frau Kramer starrte Ron verständnislos an: »Welches Mädchen?«
»Die Tänzerin, die ermordet wurde«, erklärte Myriam.
Frau Kramer schüttelte langsam den Kopf. Sie wusste offenbar nicht, wovon die Rede war, bis sie plötzlich begriff: »Ach so, Sie meinen die Prostituierte, die zu Tode gepeitscht wurde. Aber...« Sie kniff verständnislos die Brauen zusammen. »Ich verstehe nicht, was Simon damit zu tun haben soll.«
»Hat er nichts erzählt?«, fragte Myriam verwundert.
»Was? Was sollte er denn erzählen?«
»Dass er und David die Tote entdeckt haben?«
Frau Kramer holte tief Luft. »Wann?«
»Am 28. April«, versuchte Myriam ihr zu helfen.
Frau Kramer überlegte einen Moment, bis sie schließlich erklärte: »Am 28. April? Da war ich nicht hier, sondern übers Wochenende bei meiner Schwester in München.«
»Hat David hier übernachtet?«
»Das weiß ich nicht.«
»Und niemand hat über den Vorfall gesprochen?«, wunderte sich Myriam erneut. »David musste sogar ins Krankenhaus. Er hatte einen starken Asthmaanfall.«
»Natürlich«, murmelte die Haushälterin. »Der
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