Die Silberdistel (German Edition)
Dettler kam, um Jerg abzuholen. Und auch mit Marga hatte er seinen Ärger gehabt. Wollte diese doch auf Teufel komm ‘raus mit nach Ulm! Beim Gedanken an seine Frau mußte er schmunzeln. Obwohl er sich manchmal über ihr unziemliches Verhalten ärgerte, war er insgeheim doch nicht böse deswegen. Im Gegenteil: Es beeindruckte ihn sogar, daß ein Weibsbild soviel Mut aufbrachte. Wenn man sie so sah mit ihren flachsblonden Zöpfen, konnte man meinen, daß sie kein Wässerchen trüben konnte. Dabei hatte sie es faustdick hinter den Ohren! Schade, daß es nicht mehr Männer gab, die soviel Mumm in den Knochen hatten! Bei einem Weib war es eh vergeudete Liebesmüh’.
Die Reise nach Ulm war beschwerlicher und länger, als die Männer angenommen hatten. Auf der ganzen Strecke fand sich nur ein Wagen, der sie ein Stück mitnehmen wollte, alle anderen waren schnurstracks an ihnen vorbeigefahren. Des Nachts suchten sie Schutz in leerstehenden Scheunen, denn für die Einkehr in eine Herberge hatten weder Jerg noch Dettler Geld. Jerg war erstaunt, wie viele Menschen außer ihnen in Richtung Ulm unterwegs waren. Ob die alle Müntzers wegen nach Ulm gingen? Doch viele waren wohl unterwegs, um zu handeln, was die hochbeladenen Fuhrwerke und Wagen vermuten ließen. Als ob Dettler Gedanken lesen könnte, ließ er Jerg an seinem Wissen über die Stadt, deren Mauern nun in Sichtweite kamen, teilhaben.
»Ulm ist eine der größten Städte des Landes, mußt du wissen. Und was den Handel angeht, ist sie wohl der wichtigste Umschlagplatz. Von weit und fern kommen die Menschenangereist, um etwas zu verkaufen. Kein Wasser ist ihnen zu tief, kein Weg zu weit, um ihre Waren nach Ulm zu bringen. Feinste Seidenstoffe, fremdländische Gewürze, italienischer Marmor …« Dettlers Stimme bekam einen sehnsüchtigen Klang, als er mit seiner Litanei fortfuhr: »Silber aus den russischen Bergwerken, Edelsteine aus fernen Landen – in Ulm wird alles feilgeboten.«
»Weiß Gott, das sind Dinge, die ein Mensch wirklich braucht!« spöttelte Jerg.
»Nun, für den einfachen Mann ist natürlich auch etwas dabei. Bier-und Weinschenken, Hurenhäuser und andere Vergnügungen finden sich in Ulm ebenfalls zuhauf. Außerdem heißt es, die besten Waffenschmiede nördlich der italienischen Grenze seien in Ulm zu Hause. Aber«, Dettler klopfte seinem Freund auf die Schulter, »wir sind ja nicht wegen der Weiber und dem Wein gekommen, sondern um endlich zu erfahren, wie das Himmelreich auf Erden aussieht.«
Jerg blieb stehen und grinste Dettler ins Gesicht. »Das hast du doch gerade eben beschrieben, du Trottel! Weiber und Wein – das ist das Himmelreich auf Erden!«
Vergnügt marschierten sie weiter, bis sie an das nördliche Stadttor von Ulm gelangten. Nachdem sie zuvor noch eine schmale, steinerne Brücke passiert hatten, blieb Dettler wie angewurzelt vor der Stadtmauer stehen. »Ich werd’ verrückt! Schau mal, was hier steht!« Dann erinnerte er sich daran, daß Jerg nicht lesen konnte, und beeilte sich, die großen, in Stein gehauenen Buchstaben für ihn zu entziffern: »SPQU – Senatus Populus Que Ulmiensis – das ist lateinisch und heißt soviel wie: ›Hier leben der Senat und das ulmische Volk!‹« Er schüttelte den Kopf.
»Ja und? Was ist daran so Besonderes?« fragte Jerg ruppig. Wie immer, wenn es ums Lesen und Schreiben ging, ärgerte er sich über sein eigenes Unvermögen.
»Das besondere an dieser Inschrift ist die Tatsache«, antwortete Dettler in einem für Jergs Ohren unangenehmbelehrenden Ton, »daß sie ursprünglich auf den Mauern von Rom zu finden war. Nur heißt es dort SPQR, was soviel bedeutet wie: ›Der Senat und das römische Volk‹. Die Ulmer scheinen es der heiligen Stadt einfach nachgemacht zu haben. Da siehst du, wie wichtig sie sich selbst nehmen!«
Auch innerhalb der Stadtmauern hielt Ulm, was es von außen versprochen hatte: Große Häuser, wie sie Jerg noch nicht einmal in Untertürkheim gesehen hatte, säumten Straßen, die so sauber glänzten, als hätte ein Rudel Hunde sie mit feuchter Zunge abgeleckt. Geschäftig dahereilende Menschen hasteten von einer Straßenseite zur anderen, wobei sie sich schwer damit taten, zwischen den vielen Fuhrwerken und Reitern einen Weg zu finden. Edelmänner, Soldaten, Handwerker und ihre Burschen, Kaufleute und ihr Gesinde – in Ulm schien sich alles auf den Straßen abzuspielen. Edle Frauen in prachtvollen Gewändern und hohen Kopfbedeckungen waren genauso unterwegs wie
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