Die Silberdistel (German Edition)
dort in Sicherheit gebracht.« Sie blickte von einem zum anderen. »Die Hütte ist zwar uralt, aber sie hat ein Dach und bietet guten Schutz. Wer nicht weiß, daß es sie gibt, findet sie nur durch Zufall. Vor Besuchern ist man dort oben ziemlich sicher.« So sicher, daß man dort im Schutz der Einsamkeit einem Kind das Leben schenken konnte, ging es ihr durch den Kopf. Sie zuckte mit den Schultern.
»Nach Jergs Rückkehr bin ich einmal mit ihm hinaufgegangen. Nur so. Ich wollt’ ihm die Hütte zeigen.« Marga erinnerte sich noch ganz genau daran. Sie hatte das Bedürfnis verspürt, Jerg Finds Geburtsort zu zeigen, und dabei gehofft, daß Jerg vielleicht etwas von dem eigentümlichen Zauber spüren würde, der in ihren Augen von dem Ort ausging. Es war ein klarer Frühlingstag gewesen, ohne eine einzige Wolke am Himmel. Die Arbeit für den Tag hatte hinter ihnen gelegen, und so hatten sie sich trotz Lenes Keifen auf den Weg gemacht. Noch heute konnte sie sich an Jergs strahlende Augen erinnern, als er ins Tal hinabblickte. »Da hinten, siehst du, das muß der Schwarzwald sein. Und weiter rechts, dort, wo die kleinen Hügel sind, das könnte schon das Remstal sein. Und sieh doch nur: die Lauter! Wie eine Schlange windet sie sich durch das Tal.« Arm in Arm hatten sie dort oben zusammengesessen, während Find in der Nähe auf dem weichen Moosboden spielte.
Mit einer fast liebevollen Geste brach Jerg eine der vielen Silberdisteln ab, die wie milchig-glänzende Sterne zwischen den spröden Gräsern wuchsen.
»Schau, ist sie nicht wunderschön?« Zärtlich hielt er die Silberdistel gegen das Sonnenlicht, in dem die stachelige Hülle wie zarteste Spitze wirkte. Marga erinnerte sich genau an den Kloß in ihrem Hals, den sie bei Jergs nächsten Worten verspürt hatte: »So wehrhaft wie diese Pflanze, so widerstandsfähig, daß sie sich trotz aller Kargheit hier droben in ihrer ganzen Schönheit entfalten kann – so soll auch unser Kampf sein!«
Plötzlich war seine Zufriedenheit wieder wie weggeblasen. »Wenn man hier droben sitzt und runterschaut, ist es leicht, zu vergessen, was dort unten tagtäglich an Ungerechtigkeiten passiert.« Als er weitersprach, war sein Gesichtsausdruck hart, fast schon verbittert. »Aber wir dürfen uns nicht zurücklehnen und denken: Der Herrgott wird’s schon richten. Der Herrgott hat’s bisher immer nur den Reichen gerichtet. Uns hat er dabei vergessen. Aber eines sage ich dir hier und jetzt …« Jerg faßte Marga mit einem Ruck an den Schultern. »Schau hinab, Weib! Solange da unten im Tal die Bauern wie Kettenhunde angepflockt bleiben, wird es keine Gerechtigkeit geben!« Dann hatte er grimmig aufgelacht. »Aber es ist nur noch eine Frage der Zeit, bis die Hunde ihre Herren beißen …«
Wie viele Jahre waren seit damals vergangen? Waren es vier oder schon fünf? Und was hatte sich seitdem geändert? Nichts, rein gar nichts.
Ein Geräusch riß Marga aus ihrer Erinnerung. Sie schaute auf und stellte fest, daß beide Männer ihre Jacken angezogen hatten und sie erwartungsvoll anblickten.
»Auf was wartest du noch? Los, Marga. Du mußt uns die Hütte zeigen, denn alleine finden wir sie nicht, schon gar nicht mitten in der Nacht.«
Als sie jedoch Stunden später bei der Hütte ankamen, war diese menschenleer. Nichts deutete darauf hin, daß sich hier vor kurzer Zeit ein Besucher aufgehalten hat. Trotzdem beschlossen sie, bis zur Morgendämmerung zu warten.
»Vielleicht haben sie sich ja irgendwo unten im Tal versteckt und kommen erst morgen früh hier herauf.« Nachdem Michel die Hütte gesehen hatte, war er sich ziemlich sicher, daß die Männer diesen Zufluchtsort wählen würden. Wäre er in derselben Lage, würde er nicht einen Augenblick zögern, hier oben, in der Abgeschiedenheit der Schwäbischen Alb, Schutz vor den Soldaten zu suchen.
Auch Georg Klein war zuversichtlich, hier auf Jerg und die anderen zu stoßen. Er war der kleinen Gruppe vor Cornelius’ Hütte über den Weg gelaufen, hatte deren Aufbruchsstimmung sofort bemerkt und sich ihnen angeschlossen.
Nachdem sie eine Weile schweigend nebeneinander gesessen hatten, wagte Cornelius einen neuen Versuch. »Jetzt sag halt schon, was geschehen ist bei euch in Beutelsbach, daß du den Stefan so dringend sprechen willst!«
Als wäre es das Normalste von der Welt, antwortete Michel: »Ach, Beutelsbach! Wenn’s das alleine wär’, hätt’ ich’s nicht so eilig. Aber ich habe Nachricht aus dem ganzen Land. Aus dem
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