Die Silberdistel (German Edition)
eigenen Füße. Wozu eigentlich der ganze Aufruhr? Bisher war schließlich noch nichts Großartiges geschehen. Insgeheim war er über den Geheimbund schon etwas enttäuscht. Stets wurde bei den Zusammenkünften nur dumm herumgeredet, mußte er wütend zugeben. Was sollte sich dadurch schon ändern? Reden, reden, reden – wie die alten Waschweiber!
Er hatte zwar keine Vorstellung, was denn eigentlich passieren sollte und welche Heldentaten der Arme Konrad vollbringen sollte, aber er war sich zumindest sicher, daß etwas geschehen mußte! Eines mußte man ihrem Hauptmann allerdings lassen: Ihre Losung hatte er sich wirklich fein ausgedacht! Jerg lachte leise in sich hinein, als er an die zurückliegende Szene während des Mittagmahls dachte: Zuerst das Klopfen an der Tür und dann Lenes ungläubiges Gesicht, als ein in wüste Lumpen gekleideter Bettler in die Stube platzte und sich vor aller Augen im Kreise zu drehen und zu singen begann: »Ich bin und bleib’ ein armer Narr, bis daß ich zu Grabe getragen werde auf dem Hungersberge …« SeinLiedlein hörte sich an wie ein alter Kinderreim. Dazu schwenkte er einen Gehstock, an dessen oberen Ende Schellen und Stoffstreifen befestigt waren. Die Kinder begannen zu kichern, und auch Marga konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen. So einen Bettler hatte man noch nicht gesehen! Dieser kniete sich nun vor Lene auf den Boden und hielt seine rechte Hand auf seine Brust wie ein Ritter, der seinem Herrn einen Schwur leistet:
»Ich bin und bleib’ ein armer Narr … verehrte Frau Bauerin, hochverehrte Frau Bauerin, möchte ich gar sagen! Ein armer Narr wie ich, der hätt’ nur eine Bitte: Ob Sie wohl eine Speis’ für ihn übrig hätten?«
Danach ließ er wieder seine Schellen rasseln. Lene, der das Ganze langsam unheimlich wurde, beeilte sich, der Bitte des Lumpenmannes nachzukommen. Keinem fiel auf, wie der Mann zwischendurch Jerg einen listigen Blick zuwarf, den dieser mit einem fast unmerklichen Nicken beantwortete. Bereitwillig lies er sich danach von Lene zur Tür hinausschieben. Er hatte ja bekommen, weswegen er gekommen war. Und das in zweierlei Hinsicht …
Und Jerg wußte, was heute abend, ›im Abendrot‹, vor ihm lag: ein Treffen des Geheimbundes auf dem alten Friedhof, dem Hungersberg.
Mittlerweile war er fast am Ziel angekommen. Mit jedem Schritt nahm Jergs innere Aufruhr zu. Doch als er endlich den alten Friedhof erblickte, blieb er abrupt vor der brüchigen Friedhofsmauer stehen: Statt wie gewohnt auf eine Gruppe von Männern zu treffen, sah er nur eine einzige Person, die ihm zudem den Rücken zugewandt hatte.
Was sollte er nur tun? War das Freund oder Feind?
Erneut ließ er sich den Spruch des Bettlers durch den Kopf gehen. Entweder es ging alles mit rechten Dingen zu, und die anderen Mitglieder kamen zu spät, oder es wollte ihm jemand eine Falle stellen …
Es blieb ihm nichts anderes übrig: Genau dies mußte erherausfinden. Entschlossen trat Jerg hinter der Friedhofsmauer hervor, um gleich darauf wieder zu stutzen. Der Mann sah aus wie ein Edelmann und nicht wie einer der Bauern!
Vorsichtig machte er einen Schritt rückwärts. Keinesfalls wollte er in eine Falle laufen. Doch gerade als er sich wegschleichen wollte, drehte sich der Mann um.
»Guten Abend, Jerg. Wie ich sehe, hat unsere Nachrichtenübermittlung bestens funktioniert.« Mit einem amüsierten Lächeln winkte er Jerg zu sich.
»Komm und setz dich zu mir. Ich glaube kaum, daß die unter uns etwas dagegen haben, wenn wir es uns hier gemütlich machen …«
Zögernd näherte sich Jerg dem Fremden. Woher kannte er seinen Namen? War das etwa ein Spitzel? Er konnte seine Gedanken gar nicht so schnell ordnen, wie sie ihm durch den Kopf schossen. Doch eines wußte er ganz sicher: daß größte Vorsicht geboten war! Seltsam, er wurde das Gefühl nicht los, dem Mann schon einmal begegnet zu sein …
Angriffslustig beschloß Jerg, wieder einmal die Flucht nach vorne anzutreten:
»Was wollt Ihr, Herr? Ihr seht nicht so aus, als würdet Ihr hier das Grab Eurer Liebsten besuchen – so wie ich es tue!«
»Erkennst du mich wirklich nicht?« fragte der Fremde ungläubig und blickte Jerg dabei direkt ins Gesicht. Dieser zuckte unsicher mit den Schultern.
»Für gewöhnlich verkehrt unsereins nur mit anderen Krautund Rübenfressern, wie Ihr uns so freundlich nennt! Mit solch edlen Herren, wie Ihr einer seid, habe ich nichts zu schaffen!« Jergs Stimme triefte vor Spott und Ironie. Diese
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