Die Silberdistel (German Edition)
übte er gleichzeitig einen seltsamen Zauber auf mich aus. Welten lagen zwischen diesem stolzen Mannsbild und den geprügelten Bauern, deren Wille so gebrochen war, daß sie es nicht mehr wagten, den Kopf zu erheben.
»Und wenn Ihr mich hundertmal dasselbe fragt: Keiner von uns hat die Ziegen gestohlen. Eure blöden Viecher sind von selbst auf unsere Wagen zugekommen!«
Ich konnte den Mut des Zigeuners nur bewundern! Statt zu heulen und um Erbarmen zu flehen, spie er Jost seine Antwort geradewegs entgegen. Aber was hatte der arme Teufel auch zu verlieren? Selbst wenn er recht hatte, was ich bezweifelte – es hätte ihm niemand geglaubt! Und Jost am allerwenigsten. Während er sich für einen kurzen Moment mit dem Büttel beriet, nahmen die Rufe der Menge wieder zu. Neben mir erkannte ich Heinrichs Witwe, Marianne, die ebenfalls aus voller Kehle schrie: »Tötet sie, tötet sie!« Obwohl mich meine Dorfnachbarn und ihr Verhalten mit Abscheu erfüllten, konnte ich meine Augen nicht abwenden. Dann begann Jost wieder zu sprechen:
»Ihr Leute von Taben! Diebstahl ist eine schwere Sünde, eine Untat! Vor uns haben wir nun einen ganzen Haufen Diebe und Lügner. Feige Schweine, die ihre Freveltaten nicht einmal zugeben mögen. Warum, glaubt ihr wohl, wurden die neuen, strengen Gesetze von Herzog Ulrich, unserem gnädigen Landesvater, erlassen? Nun, ich werd’s euch sagen!« Seine Stirn glänzte feucht, und unter seinen Armen hatten sich große, nasse Ringe gebildet. Doch Jost schien kein körperliches Unbehagen zu spüren, im Gegenteil: Ein kleinesLächeln umspielte seine wulstigen Lippen, als er fortfuhr. »Die neue württembergische Landesverordnung ist dazu da, für Recht und Ordnung zu sorgen – im Dorf wie auf dem Land! Für Bauern und Fahrende gleichermaßen!«
Ein unmutiges Raunen ging durch die Zuhörer. Offenbar wunderten sie sich, daß Jost sich erlaubte, sie in einem Atemzug mit diesen Zigeunern zu nennen.
»Um weiteren Freveltaten vorzubeugen, muß demnach die Strafe besonders hart ausfallen!« Josts Lachen hatte etwas Wahnsinniges an sich. Verwirrt schüttelten die Leute die Köpfe. Allmählich dämmerte es mir, daß Josts grausames Schauspiel vor allem dazu gedacht war, die Leute einzuschüchtern und gleichzeitig seine Macht vorzuführen. Die Zigeuner kamen ihm dabei nur recht, waren lediglich ein Mittel zum Zweck. Wären sie nicht zufällig in der Gegend gewesen, hätte Jost sich einen anderen Sündenbock gesucht – daran zweifelte ich nicht mehr einen Augenblick.
Wie von langer Hand geplant erschien jetzt ein niedriger, aus schweren Balken zusammengezimmerter Pferdewagen, gezogen von zwei riesigen, müde dreinblickenden Rössern. Auf dem Bock saß ein rotgekleideter Riese, dessen Kluft ihn unschwer als Henker verriet. Ein erschrockenes Raunen ging durch die Menge, und die Menschen beeilten sich, dem Unehrenhaften Platz zu machen. Denn würde man den Henker nur einmal berühren, ja, nur ein einziges Mal flüchtig streifen, wäre man selbst zu einem Unehrenhaften geworden und fände in keinem ordentlichen Haus mehr Einlaß, bekäme in keinem Wirtshaus einen Krug Bier ausgeschenkt. Asa hatte mir allerdings einmal erzählt, wie die Menschen ihres Heimatdorfes des Nachts an die Tür des ansässigen Henkers klopften und heimlich um ein Stück Kleidung, eine Haarsträhne oder ein anderes Kleinod eines Gehängten baten. Diese satanischen Gaben sollten das eigene Verderben verhindern, doch bewiesen war die Wirksamkeit dieses Brauches nicht. Mir zeigte es nur, wie verlogen doch manche Menschenlebten. Und vielleicht ging dem Henker Ähnliches durch den Sinn: Ein diabolisches Lächeln umspielte seine Lippen, während die Leute erschrocken zurückwichen. Breitbeinig, die Arme in die Seite gestemmt, stand er nun hinter seinem schweren Eichenblock. Der Uhu! Mir fielen Asas Worte wieder ein, und ich begann, am ganzen Leib zu zittern.
»Asa«, flüsterte ich, »laß uns gehen, ich kann nicht zusehen!«
Asa liefen Tränen über das Gesicht. »Ich kann nicht gehen, Marga. Was glaubst du, wie es hier aussieht, wenn erst einmal das Blut fließt? Die armen Teufel werden meine Hilfe brauchen. Aber du – du lauf nach Hause! Pack meinen Leinenbeutel mit allen Tüchern und Lumpen voll, die du nur finden kannst. Bring außerdem die tönerne Flasche mit der scharfen, durchsichtigen Flüssigkeit mit und die Arnika-Salbe … oder nein, laß die, wo sie ist. Die hilft hier keinem mehr …«
So schnell ich konnte, rannte ich
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