Die silberne Burg: Historischer Roman (German Edition)
alles lud ich auf einen kleinen Leiterwagen, den ich von Schwärzels Frau Ada geliehen hatte, und zog es zurück zum Marktplatz.
Schon von Weitem hörte ich das Gelächter der Zuschauer. Mit meinem Wägelchen blieb ich am Rand der Menge stehen, denn ein Durchkommen war unmöglich. Ich stellte mich auf die Zehenspitzen, um besser sehen zu können, aber es waren zu viele Leute vor mir. Dann fiel mir ein, dass ich mir ja ein großes Holzschaff zum Wasserholen gekauft hatte. Kurzerhand stülpte ich es um und kletterte darauf.
Mir stockte der Atem. Sie hatten zwischen zwei Häusern, dort, wo eine Gasse auf den Marktplatz mündete, ein Seil gespannt, in luftiger Höhe, dort, wo die Dächer auf das zweite Stockwerk stießen. Und auf diesem Seil stand Schnuck, eine lange Stange in der Hand. Flink lief er hin und her, hob hier ein Bein und da, ging in die Knie, hüpfte ein paar Mal hoch und trug bei all dem ein breites Grinsen im Gesicht. Ich hatte so etwas als Kind schon einmal gesehen. So wie damals hielt ich die Luft an ob der Gefährlichkeit dieses wagemutigen Unterfangens. Und da – Schnuck machte tatsächlich einen Purzelbaum auf dem Seil! Es war ganz und gar unglaublich! Die Leute klatschten und johlten begeistert, und der junge Schausteller verbeugte sich aufs Zierlichste. Doch plötzlich presste er eine Hand vor die Stirn, als würde ihm schwindelig. O Himmel, er wankte, ließ die Stange fallen, suchte mit den Händen nach Halt! Sein Körper schwankte vor und zurück, die Augen vor Schreck weit aufgerissen. Mir blieb fast das Herz stehen. Ein Kind schrie: »Fall nicht herunter, Seilmann!« Aber da hatte Schnuck mit einem Mal wieder alles im rechten Lot, sicher setzte er die nackten Füße und rannte noch einmal über das Seil, als ob zwischen ihm und dem Erdboden nicht zehn Schuh hoch Luft sei. Die Leute begriffen, dass er sie nur gefoppt hatte, und auch ich atmete erleichtert auf. Schnuck kletterte an einer Strickleiter hinunter auf die Gasse, warf Kusshände und machte Verbeugungen. Dann beeilte er sich, mit einem Schüsselchen in der Hand von Zuschauer zu Zuschauer zu gehen, bevor sich die Begeisterung wieder legte. Als er an mir vorbeikam, strahlte er mich an, und ich bewunderte ihn grenzenlos. In diesem Augenblick war ich wieder Kind, wie damals in Köln.
Kaum war Schnuck fort, ließ ein lauter Schmerzensschrei mich aufhorchen. Ich suchte nach der Ursache und stieß so auf einen vierschrötigen Kahlkopf in Bauernkleidern, der sich die Wange rieb und dabei einen blutigen Zahn begutachtete, den er auf seiner Handfläche trug. Er spuckte aus, drückte Hiltprand – besser: dem großen Medicus Koromander – ein Geldstück in die Hand und trollte sich erleichtert von dannen.
Derweil hatte schon der nächste Patient auf Hiltprands Stuhl Platz genommen, ein junger rothaariger Bursche mit geschwollener Backe. Ich verbarg mich hinter einer dicken Frau und sah ihr neugierig über die Schulter. Koromander untersuchte die Zähne des Rothaarigen, dann holte er eine kleine Kugel aus der Hosentasche und zündete sie mit Hilfe eines Spans an, der in einem Becken mit glühenden Kohlen steckte. »Ihr habt den Zahnwurm, junger Mann, ein ganz vermaledeites Tierchen, das einem Löcher in die Zähne bohrt und große Schmerzen verursacht. Ich werde diesen Wurm nun herausholen, damit er Euch hinfort nicht mehr belästigt. Keine Angst, es ist nicht schlimm.« Mittels einer Pinzette stopfte er das qualmende Kügelchen in oder neben den kranken Zahn. Ich vermutete, dass es aus zusammengerolltem getrocknetem Bilsenkraut war und dadurch eine schmerzstillende Wirkung hatte. Während nun dunkler Rauch aus dem offenen Mund des Rothaarigen quoll, langte Hiltprand hinein – und als er die Hand wieder aus dem Rachen seines Patienten zog, wand sich das kleine Würmlein zwischen seinen Fingern. »Seht hier!«, rief der Quacksalber triumphierend, »der Übeltäter!« Er zerquetschte das Würmchen zwischen Daumen und Zeigefinger und schnippte es weg. »Die Schmerzen werden noch ungefähr drei, vier Tage anhalten«, sagte Hiltprand zu dem Rothaarigen, der ihn dankbar anblinzelte. »Dann werden sie besser und vergehen ganz. Macht einen Kreuzer.«
Ich schnappte nach Luft. Denn ich hatte gesehen, was die anderen Zuschauer offenbar nicht bemerkt hatten: Hiltprand hatte vorher heimlich hinter seinen Ärmelaufschlag gegriffen und von dort das Würmlein »hervorgezaubert«. Es war die ganze Zeit über in seiner Hand versteckt gewesen. Dieser Mann war
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