Die silberne Burg: Historischer Roman (German Edition)
nicht messen oder beweisen lassen. Es gibt Menschen, die anders sind und besonders, die mit Kräften umgehen, die sonst keiner kennt. Solch ein Mensch war Janka. »Ich kann mich natürlich täuschen«, sagte sie später, »es wäre nicht das erste Mal. Und die Todeskarte ist auch nicht immer dunkel und böse. Sie kann auch einen Neubeginn bedeuten, eine Befreiung oder eine Erlösung. Viel wichtiger ist, dass die Karten einen Weg gezeigt haben, den du gehen musst. Der ›Wagen‹ führt dich voran, und die ›Welt‹ sagt, dass du dein Ziel erreichen wirst.«
Ich ließ mir von ihr Mut machen. Ja, dachte ich, du bist jetzt frei, von allem Vergangenen losgelöst. Das ist auch etwas Gutes. Wie ein Aufatmen. Und ich überlegte, was für ein Weg das sein könnte, den der ›Wagen‹ mir gezeigt hatte. Die Suche nach meinen Eltern und Jochi? Nach dem Ort, an dem ich leben konnte, meiner »Burg aus Silber«? Nach einem Mann, der mich liebte? Nach einem Leben ohne Angst, in Frieden und Sicherheit? Konnte so etwas möglich sein? Den Karten nach wohl. Ich wagte noch nicht, an mein Glück zu glauben. In dieser Nacht fand ich keine Ruhe. Ein Gedanke jagte den nächsten wie Sturmwolken über den dunklen Himmel. Als der Morgen graute, fasste ich einen Entschluss. Ich ging zu Pirlo.
»Kann ich noch ein Stück weiter mit euch ziehen?«, fragte ich. »Bis wir in eine Stadt kommen, die mich als Ärztin aufnimmt?«
Er legte den Kopf schief. »Da muss ich erst alle anderen fragen«, gab er zurück. »Das ist so bei uns.«
Er rief also das Häuflein der Fahrenden zusammen und unterbreitete ihnen meinen Wunsch.
»Wenn Ciaran noch eine Zeitlang bei mir im Zelt nächtigen will, habe ich nichts dagegen«, meinte der stille, freundliche Ezzo als Erster. »Auch wenn er schnarcht wie ein altes Ross.«
Ciaran tat erstaunt. »Ich schnarche? Du Lügner! Aber ich bleib gern nachts bei dir, mein lieber Freund, solang du nur die Finger von mir läßt.« Ezzo versetzte ihm einen scherzhaften Tritt.
Die anderen waren auch nicht gegen meine Mitreise. Finus stieß sogar einen Jubelschrei aus; er hatte mich als seine Retterin ins Herz geschlossen. Nur Hiltprand, der Quacksalber, war nicht begeistert. »Und was steuert sie zum Leben bei, wenn sie mitkommt?«, fragte er verdrießlich. »So gut geht’s uns nicht, dass wir fremde Mäuler einfach so mit durchfüttern könnten.«
»Sie ist eine Medica«, warf Janka ein. »Vielleicht würdet ihr gemeinsam … «
»Kommt nicht in Frage!« Feindselig starrte Hiltprand mich an.
»Oh, ich kann bei allen Arbeiten helfen«, beeilte ich mich, zu erwidern. »Und ich würde für das bezahlen, was ich täglich brauche. Ich will ja auch nur ein Stück rheinaufwärts mit euch ziehen, bis ich irgendwo als Ärztin bleiben kann.«
Und vielleicht, bis ich meine Eltern gefunden habe, dachte ich dabei im Stillen. Ich hatte die Hoffnung noch nicht aufgegeben. Rheinaufwärts lagen die berühmten Schum-Städte, wie mein Volk sie nach ihren alten Anfangsbuchstaben S-V-M nannte – Städte, in denen seit Jahrhunderten die ältesten und bedeutendsten jüdischen Gemeinden des Reichs lebten: Speyer, Worms und Mainz. Vielleicht war meine Familie dorthin gegangen.
Pirlos Stimme riss mich aus meinen Gedanken. »Also, Hiltprand, was ist?«
Der Angesprochene spuckte aus. »Ich bin dagegen.« Herausfordernd sah er die anderen an, aber niemand schloss sich seiner Meinung an. »Macht doch, was ihr wollt«, knurrte er schließlich. »Aber sie soll sich von mir und meiner Arbeit fernhalten, sonst lernt sie mich kennen!« Er drehte sich auf dem Absatz um und stapfte davon.
Einen peinlichen Augenblick lang sagte niemand etwas, doch dann breitete Pirlo die Arme aus. »Willkommen bei den Fahrenden, Sanna«, rief er. Lachend zwinkerte er mir zu, und unzählige Fältchen bildeten sich um seine Augen.
Damit war ich in der Truppe aufgenommen.
Während die anderen sich für die Vorstellung umzogen, die gleich beginnen sollte, ging ich auf die Suche nach einem Zeltmacher. Ich wollte Ciaran nicht für so lange aus seinem Wagen vertreiben, und Geld hatte ich genug im Beutel. Tatsächlich fand ich einen Kaufmann, der gewachstes festes Tuch anbot, und danach erstand ich von einem Zimmerer Holzstangen, ein paar Bretter, einen festen Strick und was für mein zukünftiges Heim sonst noch vonnöten war. Am Schluss kaufte ich noch allerlei nützliche Dinge wie ein Talglämpchen, Feuerstein und Zunder, ein bisschen Hausrat, Decken und Kissen. Dies
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