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Die silberne Burg: Historischer Roman (German Edition)

Die silberne Burg: Historischer Roman (German Edition)

Titel: Die silberne Burg: Historischer Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sabine Weigand
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Ich schob und stieß, aber die Tür ging nicht zu! Da bemerkte ich einen rechteckigen geflochtenen Deckelkorb, der verhinderte, dass der Türflügel ins Schloss fallen konnte. Jemand musste ihn unbemerkt hierhin gestellt haben. Na, du kannst dir vorstellen, dass ich beinahe angefangen hätte, zu fluchen! Ich zerrte an dem Korb, um ihn aus dem Weg zu bekommen, als ich einen Laut hörte, der aus dem Inneren drang. ›Beim heiligen Ciaran‹, dachte ich, ›was ist das?‹ Ich öffnete den Deckel, und, arrah!, was glaubst du, was darin war? Du! Ein winziges Kindlein, gewickelt in dicke Tücher, das auf einem Bett aus Stroh lag. Und du sahst mich mit großen Augen an, als ob du sagen wolltest: Hilf mir, Father Finnian, nimm mich mit! Ich hob den Korb hoch, drückte ihn fest an mich und lief so schnell ich konnte zur Wohnung des Abts. Du kennst ja Father Padraig! Er schlug erst einmal die Hände über dem Kopf zusammen und rief alle Heiligen an, dann schickte er den langen Liam – der war damals noch Küchenknecht – durch den Sturm zu den Nonnen. Und stell dir vor, Mutter Mairin kam selbst! So dick und schlecht zu Fuß sie damals schon war, sie kämpfte sich durch das Wetter, um dich zu sehen. ›Gute Jungfrau Maria‹, schnaufte sie, ›hier haben wir ja Moses und die Sintflut gleichzeitig beieinander!‹ Vorsichtig holte sie dich heraus und wickelte dich aus dem nassen Zeug. Du fingst an zu schreien und zu strampeln. ›Gesund scheinst du ja zu sein‹, sagte sie zu dir, nahm dich hoch und tätschelte dir den Rücken, ›aber du hast sicher großen Hunger. Na, wir werden dich schon durchbringen, kleiner Wicht. Willkommen in Clonmacnoise.‹«
    Father Finnian lächelte auf den Buben herunter, der wie jedes Mal gespannt an seinen Lippen hing. Ciaran hatten sie das Findelkind genannt, nach dem heiligen Gründer ihres Klosters. Oh, so etwas kam schon einmal vor, dass ein namenloser Säugling zu den Gottesleuten gebracht wurde. Die Nonnen nahmen solche Kinder stets bei sich auf und zogen sie groß, bis sie irgendwo außerhalb bei christlichen Familien untergebracht werden konnten. So hatten sie es auch mit Ciaran vorgehabt, doch der Junge hatte sich so vielversprechend entwickelt, dass Mutter Mairin ihn im Alter von fünf Jahren zur weiteren Erziehung zu den Mönchen geschickt hatte.
    »Wo bin ich denn aber nur hergekommen, Father?«, wollte Ciaran wissen.
    »Och, mein Junge, das weiß nur der liebe Gott.« Vater Finnian kratzte sich an der Wange. »Von draußen eben.«
    Draußen! Dieses Wort klang geheimnisvoll und rätselhaft. Natürlich wusste Ciaran noch nichts darüber, er konnt nur ahnen, dass dieses »draußen« eine ganze, riesengroße Welt umfasste. Er kannte bisher nichts als die steinernen Kirchlein und Kapellen innerhalb der engen Mauern, nichts als betende Mönche und Nonnen, Gottesdienste, Schulunterricht und Küchenarbeit. Aber irgendwo dort draußen, da waren seine Eltern.
    »Jedenfalls«, sagte Finnian und seufzte leise, »gehörst du jetzt zu uns. Wir alle, die Brüder und Schwestern von Clonmacnoise, sind deine Familie.«
    Inzwischen waren der hochgewachsene, greise Mönch und sein junger Begleiter am Ufer angekommen. Jetzt zogen sie kleine Sicheln aus ihren Gürteln und begannen, die schönsten und längsten Binsen abzuschneiden, immer eine Handbreit über dem Boden. Über ihnen trieb der Wind die Wolken über den weiten Himmel, immer wieder brach die Sonne durch und tauchte das Land in ein klares, strahlendes Licht. Das Grasland leuchtete in tausend Schattierungen von Grün, der Fluss glitzerte blausilbern, und selbst die grauen Steine der Klosterbauten schienen beinahe kristallen und gleißend weiß. Nach einiger Zeit bündelten Father Finnian und Ciaran die grünen Halme, schulterten ihre Last und gingen langsam zum Kloster zurück.

    Ciaran war müde. Er war zusammen mit den Mönchen lange vor dem ersten Morgengrauen aufgestanden, hatte noch vor dem Frühstück das Skriptorium gefegt und dann bis mittags bei Father Dermot Unterricht gehabt. Mit gesenktem Kopf trabte er neben seinem Begleiter her; die beiden durchquerten den kleinen Friedhof mit den uralten Gräbern der Hochkönige, umgingen die Werkstätten der Gold- und Silberschmiede und erreichten schließlich die Hütten der Mönche. Und da drang plötzlich eine Melodie an Ciarans Ohren. Es waren Töne, fein wie Spinnweben, die in der Luft schwebten, sich verwoben, miteinander spielten, einander umschlangen und liebkosten, um dann

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