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Die silberne Burg: Historischer Roman (German Edition)

Die silberne Burg: Historischer Roman (German Edition)

Titel: Die silberne Burg: Historischer Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sabine Weigand
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allergrößter Sorgfalt sein Messer schliff, denn hatte die Klinge auch nur eine einzige Scharte, dann war das damit geschlachtete Tier nicht mehr koscher und musste an die Christen verkauft werden. Immer wieder fuhr er mit dem Daumen die Schneide entlang, bis er endlich mit seinem Werk zufrieden war. Dann rief er etwas nach draußen, und ein junger Mann von vielleicht Anfang zwanzig führte ein Schaf in den Raum. Salo gab einen kleinen Laut der Überraschung von sich. »Das ist mein Bruder«, flüsterte er mir zu, »Chajim.«
    Ich wusste, dass er einen Halbbruder hatte, der aus der ersten Ehe seines Vaters stammte und deshalb viel älter war. Und dass Salo ihn nicht recht mochte. Neugierig musterte ich Chaijm. Er war nicht besonders groß, wirkte aber ungemein kräftig mit seinem breiten Brustkorb, dem dicken Hals und den mächtigen Oberarmen. Sein braunes Haar begann sich bereits an den Schläfen zu lichten, aber dafür hatte er einen dichten Bartwuchs. Fest hielt er das vor Angst blökende Schaf im Griff, damit der Schochet einen guten, tiefen Schnitt setzen konnte. Ein dicker Blutstrahl schoss aus der Kehle des Tieres, und es brach zuckend zusammen. Gemeinsam packten die beiden Männer das Schaf und hängten es kopfüber an einen Haken an der Wand. Das Blut strömte in ein darunterstehendes Holzschaff. Chajim lachte, und mir wurde schlecht – als hätte ich in diesem Augenblick schon gewusst, dass ich gerade den Mann gesehen hatte, der mein Leben so furchtbar zerstören sollte. Ich würgte und erbrach mich unter dem Fenster.

    Und noch etwas lässt mich den Tag nicht vergessen, an dem ich Chajim Hirsch zum ersten Mal sah. Ich ging heim, es war bald Abend, und ich freute mich auf den Schabbat, der mit Sonnenuntergang begann. Ich liebte die feierliche Zeremonie, die den Feiertag einleitete. Wenn mein Vater Kiddusch machte, war er immer besonders gut aufgelegt und hatte immer ein gutes Wort für uns Kinder. Oh, ich sage »uns Kinder«, weil ich inzwischen ein Schwesterchen bekommen hatte! Es war fast ein kleines Wunder, denn meine Mutter hatte die vierzig bei der Geburt von Jochebed schon überschritten und niemand hätte geglaubt, dass sie noch ein Kind bekommen würde. Meine Eltern waren anfangs überglücklich; sie umsorgten und hätschelten die Kleine so sehr, dass ich manchmal richtig eifersüchtig wurde.
    An diesem Tag war Jochebed schon über zwei Jahre alt, und sie saß zwischen mir und Vater am Tisch auf ihrem hohen Kinderstühlchen. Mutter zündete die Kerzen an, die auf einem Wandsims standen, gleich unter der Tafel mit der Aufschrift » Misrach «, was »Osten« bedeutet und die Richtung anzeigt, in der Jerusalem liegt. Vorher hatte sie natürlich die ganze Stube sauber gefegt, das feine Tischtuch aufgelegt und ihr schönstes Geschirr gedeckt. Vater machte Motzi, das heißt, er sprach den Segen über den Wein und das frischgebackene, zum Zopf geflochtene Challah-Brot, und dann gab es wie jeden Freitag einen leckeren Lammeintopf mit viel Gemüse und wenig Fleisch. Wir waren ja keine reichen Leute.
    Nach dem Essen holte Vater eines seiner Bücher und las uns mit seiner dunklen, tiefen Stimme vor. Ich erinnere mich noch genau, dass es an diesem Abend um den Auszug der Kinder Jisroel aus Ägypten ging. Jochebed war unruhig, das war sie meistens, Mutter sagte dann stets ziemlich hilflos: »Du trägst die Ruhe hinaus, Kind!«, was natürlich nie etwas bewirkte. Auch diesmal half es nichts. Jochebed wippte auf ihrem Stuhl hin und her, spielte mit dem Tischtuch und krähte vor sich hin. Vater las einfach weiter und versuchte, sie nicht zu beachten. Da schließlich griff sie nach dem Gebetsmantel, der über seiner Stuhllehne hing, zerrte daran und riss eine der Zizit-Fransen ab. Da riss auch bei Vater der Geduldsfaden, er holte mit der Hand aus und schlug meine Schwester mitten ins Gesicht!
    Ich saß starr. Vater hatte den Schabbatfrieden gebrochen! Jochebed fing an zu brüllen, die Finger immer noch um die abgerissene Franse gekrallt. Vaters Gesicht war wutverzerrt; er wollte Jochebed gerade packen und schütteln, als meine Mutter ihm in den Arm fiel. »Lass sie«, rief sie, »im Namen Adonais, du weißt doch, sie ist … blöde!« Und dann begann sie, leise zu schluchzen. Vater hielt inne und ließ von Jochebed ab. Er sah Mutter verstört an und nickte dann langsam; es sah aus, als ob er aus einem Traum erwachte. »Ja«, sagte er irgendwann leise, »ich weiß.« Auch ihm liefen jetzt die Tränen aus den Augen.

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