Die silberne Burg: Historischer Roman (German Edition)
Er legte den Arm um Mutter, und dann weinten sie gemeinsam. Es war ausgesprochen.
Das war der Augenblick, als auch mir klar wurde, dass meine kleine Schwester anders war. Natürlich hatte ich bemerkt, dass sie fast gar nicht reden konnte, und wenn, dann ein bisschen lallend. Und dass sie sich irgendwie merkwürdig und langsam bewegte und noch nicht richtig laufen konnte. Aber sie war ja noch so klein. Dass sie überhaupt keine Ähnlichkeit mit mir hatte – mit ihrem breiten Mondgesicht, den seltsam schräg stehenden Augen, den dicken, runden Patschhänden mit ungeschickten Knubbelfingern –, hatte mir auch kein Kopfzerbrechen bereitet. Sie war eben Jochi. Und jetzt tat sie mir so leid, weil sie gar nicht verstanden hatte, warum Vater sie schlug. Ich beugte mich hinüber und tröstete sie. Dann stand ich auf und umarmte traurig meine Eltern. Was wir alle bis zu diesem Tag nicht hatten sehen wollen, mussten wir nun annehmen und begreifen.
Abends, als wir in unserer gemeinsamen Bettstatt lagen, drückte ich mein schlafendes Schwesterchen ganz fest an mich. »Mir ist es gleich, ob du nicht ganz richtig im Kopf bist, Jochi«, flüsterte ich ihr ins Ohr. »Ich hab dich lieb.«
Rittergut Riedern bei Lauda, Winter 1398
In der Hofstube brannten alle Wandfackeln und Kienspäne. Die Dienerschaft hatte Dreifüße mit glimmenden Kohlebecken aufgestellt, und das Feuer im riesigen Kamin – dem einzigen der gesamten Burg – flackerte hoch auf. Trotzdem wurde es in dem kleinen Saal nicht richtig warm. Das lag daran, dass die dicken Mauern der Wohnburg so viel Kälte abstrahlten – immerhin herrschte draußen schon seit Wochen strengster Frost. Außerdem pfiff es bei jedem Windstoß hörbar durch die Ritzen der Holzrahmen, die die hohen Fenster mit eingespannten Pergamenthäuten abdichten sollten. Auch der Steinboden war eiskalt, aber das konnte man wenigstens mit einer dicken Strohschicht mildern. Kalte Füße hatten die Leute in der Hofstube trotzdem. Einzig in der Nähe des offenen Feuers war es einigermaßen warm, dort, wo der Herrentisch stand.
Ezzo teilte seinen zinnernen Teller wie immer mit dem dicken Dorfpfarrer. Pater Meingolf aß an fünf Tagen in der Woche mit am Tisch des Grafen, das gehörte zu seinem Deputat: eine Fastnachtshenne, ein halber Sümmer Korn, Holz genug für den Winter, Essen bei Hof und ein Paar feste Schuhe im Jahr. Dafür erledigte er die herrschaftlichen Schreibarbeiten und unterrichtete Ezzo nicht nur in religiösen Dingen, sondern in allem, was ein Knabe von guter Herkunft wissen musste. Dank Meingolfs romantischer Begeisterung für höfische Literatur war sein inzwischen zwölfjähriger Schüler allerdings bald vertrauter mit Minnedichtung und Heldensagen als mit Bibel und Heiligenlegenden.
Neben dem Pater saßen zwei edelfreie Herren von Dornberg, Vater und Sohn, die dieser Tage zur Rechnungslegung auf der Burg waren. Beide machten betretene Gesichter; Graf Heinrich hatte sie vorhin mit deutlichen Worten wegen ihrer miserablen Teichwirtschaft gerügt. Sie steckten die Köpfe zusammen und tuschelten; man sah ihnen an, dass sie sich ungerecht behandelt fühlten. Den beiden Edelfreien gegenüber hockte Leo, der alte Falkner, ein spindeldürrer, hochgewachsener Mann, der mehr Falten im Gesicht hatte als er an Jahren zählte. Es hieß, er sei beim Markgrafen von Brandenburg im Dienst gewesen, ehe er nach Lauda gekommen war. Eigentlich schrieb die Hofordnung für ihn den Gesindetisch vor, aber der Graf hatte ihn gern bei sich, um sich beim Essen über sein Lieblingsthema unterhalten zu können. Leo hörte schwer; er hatte ein großes Kuhhorn umgekehrt vor sich auf dem Tisch stehen, das er als Hörrohr benutzte. Gerade brauchte er es nicht, denn er unterhielt sich mit seinem Nachbarn, dem Kammerknecht Friedrichs von Riedern, einem vierschrötigen Riesenkerl, der stets in der Nähe seines lahmen Herrn sein musste. Friedrich von Riedern selbst saß am Ende der Bank, die Krücken griffbereit an den Tisch gelehnt. Er war wie immer teuer gekleidet; zu seidenen dunklen Hosen trug er eine Jacke in mi-parti, grün und hellblau, Kragen und Saum mit Eichhörnchenfell verbrämt. Seinen blonden Bart hatte er sorgsam gestutzt und mit etwas Leinöl eingefettet, damit er glänzte.
Ezzos Magen knurrte. Er hatte den ganzen Vormittag mit dem Zeugmeister Harnische und Kettenhemden geputzt; danach war er mit seinem Vater auf den Vogelherd gegangen, hatte später mit einem Waffenknecht den Schwertkampf geübt und
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