Die silberne Burg: Historischer Roman (German Edition)
packte mich mit kalten Fingern, schüttelte mich, trieb jeden klaren Gedanken aus meinem Kopf. Ich stand vor dem Dom, und der Boden wankte unter meinen Füßen. Hier und jetzt, in dieser Stadt und heute noch, würde in meinem Leben eine Entscheidung fallen. Ich würde mein Urteil erfahren oder mein Glück – in dem Augenblick, wo ich meine Familie wiederfand und in dem Augenblick, da ich Ciaran die Wahrheit sagte.
»Jungfer, geht es Euch nicht gut?« Die freundliche Benediktinerin fasste mich besorgt am Ellbogen.
»Lasst nur«, wehrte ich ab. »Es ist nur ein kurzer Schwindel, weiter nichts.« Dann gab ich mir einen Ruck und fragte nach der Marienkapelle.
»Da müsst Ihr der breiten Straße ein Stück in diese Richtung folgen«, wies die Nonne mir den Weg. »Dann seht ihr links von Euch schon den breiten Platz und die Baustelle für das Kirchlein unserer Lieben Frau. Aber gebt acht, da sind viele Juden – kauft nichts von denen, die möchten junge hübsche Dinger wie Euch gern über den Löffel balbieren und ihre Pfänder teuer loswerden … «
»Ich hab keine Angst«, sagte ich, mehr zu mir selber als zu ihr.
Als ich über den freien Platz vor der Marienkapelle ging, fielen mir schon etliche Männer, Frauen und Kinder auf, die entweder am Mantel die safrangelbe Judenscheibe oder am Schleier zwei gelbe Streifen trugen. Alle wirkten recht geschäftig – ach ja, morgen war Schabbat, und bis zum Sonnenuntergang mussten noch alle wichtigen Unternehmungen erledigt werden, damit der Tag des Friedens arbeitsfrei sein konnte. Ich sah hoffnungsvoll in jedes jüdische Gesicht, das mir entgegenkam, aber die vertrauten Mienen meiner Eltern und meiner Schwester waren nicht dabei.
Zögernd bog ich in eine der angrenzenden Gassen ein und befand mich mitten im Judenviertel. Später erfuhr ich, dass der Fürstbischof den Juden vor Zeiten erlaubt hatte, in unmittelbarer Nähe eines Sumpfes ihre Häuser zu bauen, der Rigol hieß und durch die Umleitung eines Baches entstanden war. Weil er die Abwässer des ganzen Viertels aufnahm, stank es nach Kot und Fauligem, aber das war in einer großen Stadt wie Würzburg schließlich überall so. Doch nicht nur Juden hatten sich hier niedergelassen, sondern auch einige Christen lebten mitten unter ihnen, und ganz in der Nähe befanden sich auch der Marktplatz und das Dietrichsspital.
Ich ging weiter. An fast jedem Haus sah ich am Eingang die Mesusa; manche hatten noch an der Seite die kleinen Holzvorbauten vom Laubhüttenfest stehen, vertrocknete Zweige um die Latten geschlungen. Alles wirkte bekannt und einladend auf mich, ja, es roch sogar vertraut. Ich sah den Laden des Mazzenbäckers, ging am Schlachthaus vorbei, in dem sich zwei Männer an einem toten Zicklein zu schaffen machten. An einem Brünnlein spielten Kinder mit den Schalen von Granatäpfeln und sangen dabei ein hebräisches Lied. Und dann entdeckte ich die Synagoge. Es war ein unscheinbares zweigeschossiges Steingebäude mit einer Pforte, deren Umriss den mosaischen Gesetzestafeln nachempfunden war; daneben befand sich das Rabbinerhaus. Gerade als ich anklopfen wollte, ging die Tür auf, und es kam eilig ein dicker Mann in mittleren Jahren heraus. Bis auf zwei lange, mit dem Brennstab gelockte Peot vor den Ohren und einen dichten dunklen Bart war er kahl, und er ging mir gerade einmal bis zur Schulter. Unter den Arm hatte er eine ganze Anzahl Schriftrollen geklemmt, die er nur mit Mühe festhielt. Beinahe hätte er mich umgerannt; er murmelte eine Entschuldigung und wollte schon weitergehen, da fasste ich mir ein Herz und hielt ihn am Ärmel fest.
»Schalom, Rabbi«, sagte ich mit belegter Stimme, die meine Aufregung verriet. »Verzeiht, ich sehe, dass Ihr in Eile seid. Aber ich komme von weit her und brauche Eure Hilfe.«
Er musterte mich von unten herauf aus kleinen, freundlich blickenden Äuglein. »Schalom und Grüß Gott«, sagte er mit einer überraschend tiefen Bassstimme – natürlich hielt er mich für eine Christin. »Womit kann ich Euch wohl dienen, Jungfer?«
Ich schluckte. »Rabbi, ich bin Sara bat Levi, Jüdin aus Köln. Ich suche schon seit Jahren meine Eltern, Levi Lämmlein und seine Frau Schönla, und meine Schwester Jochebed. Es hieß, sie lebten hier in der Gemeinde.«
Die Augenbrauen des Rabbi schnellten in die Höhe. Er kannte sie! Mir wurden die Knie weich.
»Morada!«, rief er, und ein junges Mädchen erschien, das aufgrund der Gesichtszüge und der Leibesfülle nur seine Tochter sein
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