Die silberne Burg: Historischer Roman (German Edition)
sind sie hierher nach Würzburg gekommen.«
»Der Herr möge dir vergeben, Sara bat Levi, was immer du getan hast.« Rabbi Süßkind blinzelte nachdenklich in die Sonne. »Auf dieser Welt ist es nicht immer für alle gut eingerichtet.« Er erhob sich und fegte ein paar trockene Grashalme von seinem Mantel. »Komm. Du hast noch nicht alles gesehen.«
Es war schon Mittag, als wir wieder im Judenviertel ankamen. Rabbi Süßlein lenkte seine Schritte zum Hekdesch, der nicht weit von der Synagoge lag. Ich folgte ihm stumm, wagte nichts zu fragen. Das Einzige, was ich denken konnte war: Jochi, ganz allein. Jochi, die immer Angst vor Fremden gehabt hatte. Jochi, die nachts nicht einschlafen konnte, wenn niemand ihre Hand hielt. Jochi. Ich wusste nicht, wie viel Unglück ich an diesem Tag noch würde verkraften können.
Der Rabbi stieg mit mir eine schmale Treppe hoch, dann blieb er vor einer Tür stehen, die von außen versperrt war. Mit einem aufmunternden Nicken hob er den Riegel hoch und stieß die Tür auf. Ich verharrte auf der Schwelle und versuchte, mich für die Begegnung zu wappnen, die nun kommen sollte.
In dem kleinen Stübchen gab es nur ein Bett, eine kleine Truhe, einen Tisch. Staubkörnchen tanzten im Licht der Sonnenstrahlen, die durch das kleine Fenster fielen und einen goldenen Fleck auf die Holzbohlen malten. Ich nahm all meinen Mut zusammen, bückte mich und trat durch die niedrige Tür ins Zimmer. Vor dem Fenster hockte eine zerlumpte Gestalt auf einem Schemel, die Arme ineinander verschlungen. Sie bewegte Kopf und Oberkörper in gleichmäßigem Rhythmus vor und zurück, vor und zurück, vor und zurück. Ich sah sie nur von hinten und im Gegenlicht, ein dunkler, unförmiger Schatten vor dem hellen Quadrat des Fensters.
»Jochi?« Ich brachte nur ein Flüstern zustande.
Die Gestalt reagierte nicht.
»Jochi!«, sagte ich noch einmal, lauter.
Da hörte sie auf, zu wippen, stand schwerfällig auf und drehte sich um. Langsam wich sie bis zur Wand zurück. Das lange Haar fiel ihr wirr und schmutzig bis auf die Hüften. Ihre Augen waren stumpf, wie verschleiert, als wollten sie nicht sehen, was um sie herum war. Reste von Brei klebten an ihrem Kinn und befleckten das einfache lange Leinenhemd, das sie trug. Mein Herz krampfte sich zusammen. Wie mochte sie sich gefühlt haben seit dem Tod der Eltern? Ich wagte nicht, auf sie zu zugehen, wollte ihr keine Angst machen. Also blieb ich wo ich war und wartete. Jochi gab ein kleines tiefes Brummen von sich, ach, das hatte sie früher immer getan, wenn ihr etwas nicht gefiel. Ihr Mund öffnete sich und schloss sich wieder. Wie ein Tier stand sie fluchtbereit da, sah mich voller Angst und Misstrauen an. Sie erkennt mich nicht, dachte ich, nach all den Jahren. Sie weiß nicht mehr, wer ich bin. Ach, sie war ja noch so jung … Aber dann, ganz langsam, ging etwas in Jochi vor. Ihr Blick wurde klarer, ihre Stirn glättete sich. Etwas huschte über ihr Gesicht, die unbändige, reine Freude eines Kindes. Ihr ganzer Körper entspannte sich. Und ihre Lippen verzogen sich zu dem strahlendsten, glücklichsten, fröhlichsten Begrüßungslächeln, das ich jemals gesehen hatte. Und dann sprach sie.
»Sari hol mich wech«, sagte sie. »Hier is’ nich’ schön, un’ ich hab Hunger.«
Ich ging zu ihr hin, legte die Arme um sie und ließ meinen Tränen freien Lauf. Adonai, sie war ein ganzes Stück größer als ich, und sie war so dick geworden, dass ich sie kaum umfangen konnte. Mir war es ganz gleich, dass sie vor Schmutz starrte, ich streichelte ihr Haar, bedeckte ihr Gesicht mit lauter kleinen, tränennassen Küssen. Sie juchzte, kicherte und japste wie ein Hündchen und machte ungeschickte, kleine Hüpfer. Wir waren beide ganz trunken vor Liebe und Glück.
Ich hatte meine kleine Schwester wieder.
Der Rabbi spähte durch die Tür, und als er unsere Wiedersehensfreude sah, kam er ganz herein. »Sie hat sich nicht waschen lassen«, sagte er entschuldigend. »Wie eine Wildkatze hat sie sich gewehrt, mit Zähnen und Krallen. Gesprochen hat sie mit keinem, nur gegessen hat sie für zehn, seit sie hier ist, ganz gierig. Och, wir haben es ihr gegönnt, der Armen. Sie hat nie begriffen, dass ihre Eltern tot waren. Immer wieder hat sie versucht, zu entwischen, bis wir sie schließlich eingesperrt haben. Da war sie wie eine Furie. Tagelang hat sie getobt, hat sich selber zerkratzt, hat den Kopf gegen die Wand geschlagen, bis ihr das Blut übers Gesicht lief. Wir mussten sie
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