Die silberne Burg: Historischer Roman (German Edition)
Onkel Jehuda hatte in seinem Buch über den Lungenfluss geschrieben, dass er seine Natur manchmal nach ein paar Tagen von trocken in feucht änderte. In diesem Fall sank das Fieber vorübergehend und die schneidenden Schmerzen hörten auf, ein trügerischer Zustand, der aussah wie eine Besserung. Aber in diesem Stadium der Krankheit sammelte sich Wundwasser im Brustraum außerhalb der Lunge. Wenn es zu viel wurde, dann musste der Arzt handeln, bevor sich die Flüssigkeit in bösen Eiter verwandelte und schließlich Lunge und Herz abdrückte.
Sara wartete voller Sorge noch einen Tag, dann war durch Abklopfen deutlich zu merken, wo sich das meiste Wasser befand, nämlich unterhalb des rechten Lungenflügels. »Es ist wie bei einer Kuh mit Kolik«, erklärte sie Pirlo, der immer noch ohne Schmerzen, aber furchtbar schwach war. »Der Bauer sticht einfach mit einem hohlen, angespitzten Knochen hinein, und dann gehen die Winde ab.«
Pirlo grinste schwach, sein riesiger Schnurrbart zitterte. Mühsam hob er die Hände seitwärts an den Kopf und streckte die Zeigefinger zu Hörnern aus. »Na dann, auf den alten Stier!«
Sara nahm die silberne Hohlnadel und stach beherzt zu. Pirlo schrie auf, aber schon füllte sich die Schüssel, die Janka unter die Nadel hielt, mit wässrig hellroter Flüssigkeit. Am Ende war mehr abgelaufen, als sie gedacht hatte, vielleicht anderthalb Seidlein voll, und gottlob noch kein Eiter dabei.
Von da an erholte sich Pirlo zusehends. Das Fieber ließ sich nun endgültig eindämmen, die Schmerzen kamen nicht wieder, und das Atmen wurde von Tag zu Tag ein wenig leichter. Nach einer Woche konnte Sara Janka in den Arm nehmen und ihr sagen, dass sie ihren Pirlo behalten würde. Zum ersten und einzigen Mal sah sie die alte Wahrsagerin weinen.
»Dann können wir ja bald hier ausziehen«, meinte Ciaran vergnügt, als Sara ihm eröffnete, dass Pirlo über den Berg war. Er hatte ihr gar nicht erzählt, dass er jeden Tag in den Kiliansdom gelaufen war, um vor dem großen Altar, in dessen Reliquiengrab man den Schädel des Heiligen eingelassen hatte, für Pirlos Genesung zu beten. Sie war in letzter Zeit recht einsilbig geworden, wenn er über Glaubensdinge gesprochen hatte, und so ließ er es eben bleiben. Aber geholfen hatte es doch!
Sara widersprach ihm mit Nachdruck. »Der Lungenfluss ist eine so schwere Krankheit, dass man sich nur sehr langsam davon erholt. Bei manchen dauert es Monate, bis sie wieder zu Kräften kommen. Du wirst es merken, sobald Pirlo das erste Mal aufsteht. Ich bin sicher, er wird nicht einmal die paar Schritte bis zum Fenster schaffen. Und außerdem ist die Gefahr eines Rückfalls groß.«
»Das heißt, wir müssen den Winter über hierbleiben?«
Sara nickte. »So wird es sein.«
Ciaran legte ihr den Arm um die Schultern. »Du siehst müde aus«, meinte er. »Und du hast dein eigenes Vorhaben ganz vergessen: deine Familie ausfindig zu machen. Dafür sind wir ja schließlich hergekommen.«
Sie legte den Kopf in seine Halsbeuge und schloss die Augen. Vergessen? Wie hätte sie ihr altes Ziel vergessen können? Nur bis jetzt war Pirlo einfach wichtiger gewesen. Nun, da es ihm leidlich gut ging, konnte sie das tun, wofür sie hergekommen war. In dieser Nacht würde sie endlich einmal mehr als zwei Stunden am Stück schlafen. Und am nächsten Morgen würde sie sich gut ausgeruht auf den Weg machen.
Schreiben des Ritters Ezzo von Riedern an Ihre
Majestät die Königin, Barbara von Cilli,
Oktober 1415
Gottes Gruß zuvor, Euer Liebden, und den meinen darnach. Wie Ihr befohlen habt, wurde zu Pragk alles Schriftthum des Johann Huß und auch die Handtschrifft des hochwirdigen Wicklif an den edlen Herrn Johan von Trocnov, genant Schischka der Einäugige, übergeben. Derselbe, der nunmehro der Anführer der Hus’schen Bewegungk in Böhmen ist, hat mit groszer Freud alles entgegen genomen und geschworn, die Stück stets in Ehren zu haltten. Er will Euch in eim eignen Brieff dancken. Item mir scheinet, daß in Böhmen alles dahin gehet, daß man sich von der alt hergebrachten Kirche los sagen möcht. Der König Wentzel ist schwach, aber er ist auch trotzigk, und er tuet alles, um seinem Bruder, Eurem Gemahl, zu schaden. Allüberall höret man den Satz, Böhmen werde zu Ketzerland, und ich möchts auch glauben. Zu Pragk gäret es. Steht zu befürchten, daß sich der Schischka an die Spitze eines Heeres setzet – er ist ein weitgefürchter Kriegsherr und hat in vieler Herrn Länder
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