Die silberne Burg: Historischer Roman (German Edition)
Erbe auszuschlagen. Sie wollte nicht auch noch Gewinn daraus ziehen, dass sie es unterlassen hatte, Chajim zu retten. Aber der Rabbi hatte ihr ernsthaft ins Gewissen geredet: »Bist du maschuga?«, hatte er gefragt. »Wer soll das Geld sonst nehmen? Wenn du es nicht für dich selbst willst, kannst du damit in unserer Gemeinde Gutes tun. Und es ist für deine Schwester gesorgt. Also, ich und der Barnoss regeln das alles für dich.«
Damit war Sara eine reiche Frau. Die Frage, was sie mit ihrem Wohlstand anfangen sollte, hatte sie sich schon mehrfach gestellt, ohne zu einer Antwort zu kommen. Eine Entscheidung darüber war das Einzige, was sie ins neue Jahr mit hinübernehmen wollte.
Und noch etwas hatte das alte Jahr gebracht: Ezzo. Eine Liebe, die sie nun erwidert wusste, und die sich trotzdem wohl nicht erfüllen würde. Ja, sie war jetzt frei, Chajim lebte nicht mehr. Aber das allein reichte für ein dauerhaftes Glück mit Ezzo wohl nicht aus. Chajims Grab würde keine Brücke sein zwischen ihrer beider Welten. Sie hegte wenig Hoffnung, aber sie konnte sich ihre Gefühle nicht aus dem Herzen reißen. Viele Wochen war Ezzo nun schon fort, und ihre Sehnsucht war nicht weniger, sondern stärker geworden. Jede Nacht kam er zu ihr in ihren Träumen. Und wenn sie dann erwachte, vermisste sie ihn mehr, als sie sagen konnte. Außerdem machte sie sich Sorgen. Riedern war doch nicht so weit fort, warum dauerte es so lange? Würde sie überhaupt erfahren, wenn ihm etwas zugestoßen war? Vielleicht hatte er es sich ohnehin anders überlegt und kam nie wieder. Sie wusste nicht, unter welcher Vorstellung sie mehr litt. Weil sie es kaum noch ertragen konnte, hatte sie sich schließlich eine Grenze gesetzt: Wenn an Rosch HaSchana, am Neujahrstag, das Widderhorn ertönte, ohne dass Ezzo zurück war, dann musste sie aufhören, auf ihn zu warten. Dann würde sie sich zwingen, die Hoffnung auf seine Rückkehr aufzugeben.
So kam die letzte Woche vor Neujahr. Jochis Pflegerin, die kleine Jenta, hatte darum gebeten, die letzten Tage vor Rosch HaSchana daheim bleiben zu dürfen, und so brachte Sara ihre Schwester jeden Morgen zu Janka und Pirlo. Jochi hatte längst Vertrauen zu den beiden gefasst. Sie nannte sie Safta und Sabba und hing an ihnen, als seien sie die Großeltern, die sie nie kennengelernt hatte. Auch mit Finus verstand sie sich, obwohl er sie manchmal neckte und ärgerte. Und da war ja auch noch der Herzog von Schnuff mit seinen Kunststückchen.
Nachdem sie Jochi in die Obhut der beiden Alten gegeben hatte, ging Sara auf Krankenbesuche und machte ein paar Erledigungen. Sie schaute im Hekdesch vorbei, bestellte Arzneien in der Apotheke und hielt am Brunnen einen Plausch mit den Töchtern des Rabbi. So war es schon Mittag, als sie wieder in die Judengasse einbog. Ein warmer Wind blies, schüchterner Vorbote der ersten Herbststürme; er ließ Saras Judenschleier flattern, dass sie ihn festhalten musste. Und dann sah sie ihn von Weitem, den großen, kräftigen Schimmel, der am eisernen Ring neben ihrer Haustür angebunden war. Er scharrte mit dem Huf übers Pflaster, als wolle er nach Gras suchen, und mit dem Schweif vertrieb er die Mücken, die ihm lästig waren.
Sara lief los.
»Ezzo?« Nein, drinnen war er nicht. Das Haus war leer. Sie suchte im Hinterhof, aber dort fand sie nur Ascher, den Thoraschreiber, der sich am Brunnen die Tintenflecke von den Händen wusch. Dann hörte sie jemanden an die Tür klopfen.
»Sara?«, rief Jakit, ihre Nachbarin. »Besuch für dich! Wir konnten ihn doch nicht den halben Tag auf der Gasse warten lassen … «
Sie traute ihren Augen kaum: Im Gartenhaus von Levi Colner, das die Familie an Sukkot als Laubhütte und nutzte, saßen drei Männer einträchtig beieinander. Der Hausherr selbst, Rabbi Süßlein und Ezzo.
»Zehn Männer, das ist ein Minjan«, erklärte der Rabbi gerade. »So viele müssen anwesend sein, um einen Gottesdienst abzuhalten. Denn für ein Gemeindegebet braucht man schließlich eine Gemeinde, nicht wahr? Der Rabbi nämlich, also meine Wenigkeit, hat im Gottesdienst keine besondere Aufgabe, das ist anders als bei euch. Das Lesen aus der Thora besorgen die Männer selber, das ist eine große Ehre; die Frauen sitzen derweil in einem eigenen, abgetrennten Bereich; sie können alles hören und durch ein Loch in der Trennwand den Schrank sehen, in dem die Thorarolle aufbewahrt wird.«
»Was aber tut dann ein Rabbi?«, wollte Ezzo wissen.
»Nun, er ist das Haupt der
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