Die silberne Burg: Historischer Roman (German Edition)
trennten. Sechs oder sieben Frauen begrüßten sie mit freundlichem Nicken, und sie nahm ihren Platz auf einer der Bänke ein. Vor ihr auf dem Boden saß ein Krabbelkind und spielte mit zwei tönernen Schäfchen.
Von der Gemeinde ertönte schon leises Gemurmel, jeder sprach für sich das Eingangsgebet. Ungefähr zwanzig Männer waren im Raum, junge und alte, unter ihnen der Rabbi. Schließlich verstummten die Stimmen. Sara hörte ein Schlurfen, und dann berief der Gabbaj, der Gemeindevorsteher, den heutigen Vorleser auf die Bima. Sara sah es nicht, aber sie wusste, dass der Vorleser nun den Jad ergriff, den Thorazeiger, mit dem er die Zeilen der Thorarolle entlangfuhr – Menschenhände durften die heilige Schrift beim Lesen nicht berühren. Von der kleinen Empore aus begann der Mann seinen Singsang. Er war ein guter Vorleser mit dunkler, weicher Stimme, die den vorgeschriebenen Tonfall mühelos traf und der man gern zuhörte. Sara fühlte eine wohlige Geborgenheit in sich aufsteigen. Auch wenn es kalt in dem ungeheizten Raum war, so spürte sie doch die Wärme, die von den anderen Menschen ausging. Die junge Frau neben ihr, ein hübsches dunkelhaariges Geschöpf, lächelte ihr freundlich zu, und Sara erkannte an der Art, wie sie die Hände über ihren Bauch legte, dass sie schwanger war.
Der Vorleser war an das Ende seines Abschnitts gelangt und sprach die Beracha: »Gepriesen seist du, Herr, der die Thora gibt.« Sara nahm ein leises Schnarchen hinter sich war – eine alte Frau war über den ersten Sätzen eingeschlafen. Das gleichmäßige Geräusch hatte etwas Friedliches, Beruhigendes, wie das Ticken eines Holzwurms, der sich irgendwo durch das Gebälk fraß.
Niemand hörte die Männer kommen.
Erst als die Eingangstür mit lautem Krachen barst und die Rotte ins Bethaus stürmte, ertönten die ersten Warnrufe. Aber es war zu spät. Sie hatten Dolche, Spieße und Knüppel. Mit Geschrei und Gejohle drangen sie auf die betenden Männer ein, griffen ohne Zögern an. Die Gemeinde war so überrascht, dass die ersten Männer fielen, bevor sie überhaupt wussten, was passierte. Die Frauen konnten nicht sehen, was da vor sich ging, aber Sara wusste es sofort. Sie sprang auf und schrie. Dann ging alles rasend schnell. Der Vorhang, der die Frauen verbarg, riss zischend entzwei, und ihnen bot sich ein Bild des Entsetzens. Die Schwangere neben Sara kreischte auf. Sara versuchte, die Panik zu unterdrücken, die wahnsinnige Angst, die sie mit Wucht überfiel. Vergeblich sah sie sich nach einem Fluchtweg um. Es gab nur die eine Tür.
Die Bewaffneten brauchten nicht lange für ihr Mörderwerk. Sie stachen, schlugen, prügelten. Blut bespritzte die Wände und löschte das Flämmchen des Ewigen Lichts vor dem Thoraschrein. Mit Triumphgebrüll hielt einer die Thora hoch, um sie gleich darauf zu Boden zu werfen. Ein anderer trampelte auf der Rolle herum, bis sie in Fetzen hing. Die Schreie der Verwundeten gellten in Saras Ohren, als sie versuchte, die Tür zu erreichen. Alles lief durcheinander, die Todesangst machte die Menschen blind, niemand wusste mehr, wohin. Sara sah aus dem Augenwinkel heraus, wie die alte Frau, die hinter ihr geschlafen hatte, von einem Spieß durchbohrt wurde und lautlos zusammenbrach. Der Rabbi, der versucht hatte, die Thora zu schützen, lag reglos in seinem Blut, neben ihm ein junger Bursche, der kaum die Bar Mizwa hinter sich hatte, den Schädel eingeschlagen. Hinaus, hinaus, war Saras einziger Gedanke. Sie drängte sich durch das Gemenge, stolperte, fiel über einen Körper – es war Elkan Liebmann, dessen offene Augen blicklos an die Decke starrten. Aus seinem Hals ragte die abgebrochene Spitze einer Saufeder. Sara keuchte, als sie sich wieder aufrappelte – und dann stand plötzlich einer der Eindringlinge vor ihr. Der Mann grinste, dann hob er seinen Knüppel. Sie wollte schreien, aber kein Laut kam über ihre Lippen. Mit Wucht sauste der Stock auf sie nieder, etwas in ihrem Kopf krachte. Warum nur spüre ich nichts, dachte sie, er hat mich doch getroffen. Dann wurde alles dunkel.
»Zu Hilfe!« Jemand hämmerte wie wild ans Fenster des Liebmannschen Hauses, wo Ezzo und Finus immer noch mit Jochi Karten spielten. »Zu Hilfe! Ins Bethaus!«
Eine eiskalte Hand legte sich um Ezzos Herz. Mit zwei Schritten war er zur Tür hinaus, hatte noch im Laufen sein Schwert aus dem Gehänge gezogen, das an der Wand des Flurs baumelte. Er rannte, wie er noch nie in seinem Leben gerannt war, einfach den
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