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Die silberne Burg: Historischer Roman (German Edition)

Die silberne Burg: Historischer Roman (German Edition)

Titel: Die silberne Burg: Historischer Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sabine Weigand
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salzig. Der Grundgeschmack oder -geruch des Urins weist also darauf hin, welcher Körpersaft für eine Krankheit verantwortlich ist.«
    Natürlich musste ich das alles probieren. Jedes Mal, wenn ein Siecher seinen Harn schickte, ließ mich Onkel Jehuda schnuppern und kosten. Ich gestehe, dass es mir am Anfang schwer fiel, aber nach einiger Überwindung ging das vorbei. Auch erklärte er mir, was es bedeutete, wenn der Harn trüb oder klar war, wenn er flockig aussah oder blutig, hellgelb oder todschwarz. Ich lernte, dass manche Krankheiten sich allein an einer Harnprobe ablesen ließen, ohne dass der Arzt seinen Patienten überhaupt zu sehen brauchte. Aber Vorsicht: Geschmack und Farbe des Harns richten sich auch oft nach den Speisen, die ein Mensch zu sich nimmt. Deshalb ist es in vielen Fällen wichtig, dass der Arzt seinen Patienten selbst untersucht und mit ihm spricht. Tut er das nicht, sagte mein Onkel scherzhaft, darf er sich nicht wundern, wenn man ihn einen dummen Harnpropheten schimpft.
    Also lernte ich weiter, wie man von der Stärke und Schnelligkeit des Pulsschlags auf eine Krankheit schließt, wie man den Körper abtastet, um Verhärtungen, Aufgedunsenes oder Geblähtes herauszufinden. Ich lernte, die richtigen Fragen zu stellen, um die eine Krankheit auszuschließen und die andere zu bestimmen.
    Und ich lernte, dass sich ein Arzt trotzdem nie völlig sicher sein sollte.

London, Februar 1413
    Innerhalb des Holzfasses, in das man den Delinquenten bis zu den Hüften gesteckt hatte, züngelten die Flammen an den Füßen des nackten Mannes empor, leckten an seinen behaarten Oberschenkeln und versengten mit ihrer Hitze die Locken, die sich um sein schlaffes Gemächt ringelten. Der Mann wand sich in seinen Fesseln, schrie seinen Schmerz hinaus, seine Augen rollten wild und wanderten ziellos über die unüberschaubare Menge, die sich um die Brandstatt versammelt hatte. Dunkler Rauch hüllte langsam den Scheiterhaufen ein, es roch brenzlig. Immer noch schrie der Mann, aber man sah ihn nicht mehr. Dann hörte das Schreien ganz plötzlich auf, man hörte nur noch das Knistern des Feuers.
    Ciaran wandte sich ab, ihm war von dem Geruch allein schon speiübel. Wie viele andere Schaulustige war er am Morgen mit Will und Connla nach Smithfield gepilgert, auf die große Turnierfläche vor Londons Mauern. Nur, dass sie nicht wegen des Spektakels gekommen waren, sondern um der Lollardengemeinde später wieder einmal vom Tod eines der Ihren berichten zu können.
    »Der wievielte ist es?«, fragte Ciaran.
    Will zuckte die Schultern. »Ich will lieber nicht zählen. Vor zweieinhalb Jahren hat es angefangen, mit John Badby. Ein verdammt guter Mann, Schmied aus den Midlands, der als ungeweihter Priester umhergezogen ist. Du hättest seine Predigten hören sollen! Das war Gottes Wort, wie es reiner niemand verkündigen kann.«
    »Amen«, pflichtete Connla bei. »Damals, bei seiner Hinrichtung, waren wir alle Zeugen. Und noch einer hat zugeschaut, hoch zu Ross und gekleidet wie ein Geck: Der König. Damals war er noch Prinz Henry, der Thronfolger. Ich sehe ihn heute noch vor mir: In den Steigbügeln hat er sich aufgerichtet und gerufen: ›John Badby! Ich biete dir Verschonung an, und eine Rente für dich und die Deinen – nur widerrufe! Kehre zurück in den Schoß der Kirche! Du hast geleugnet, dass die Hostie der Leib des Herrn sei – nimm es zurück und lebe!‹»
    »Und weißt du, was der tapfere Badby getan hat?«, fuhr Will fort. »Er hat sich hoch aufgerichtet in seinem Fass und dem Thronfolger ins Gesicht gelacht. ›Wenn jede Hostie, die am Altar geweiht wird, Gottes Leib wäre‹, hat er geantwortet, ›dann hätten wir jeden Tag zwanzigtausend Götter in England!‹«
    Ciaran kannte das Ende der Geschichte: Henry hatte daraufhin zornig sein Pferd herumgerissen und war vom Richtplatz galoppiert. Die Menge hatte getobt vor Wut und war anschließend in wilde Begeisterungsrufe ausgebrochen, als der Henker die todbringende Fackel unterhalb des Fasses in den Scheiterhaufen gestoßen hatte. So war John Badby als erster Märtyrer für die Lehre Wyclifs wie ein Ketzer auf dem Scheiterhaufen gestorben. Und seither waren ihm viele gefolgt.
    Die drei Freunde warteten noch, bis sich die schlimmsten Flammen verzogen hatten und der schwarz verbrannte Körper ihres hingerichteten Getreuen sichtbar zu Asche zerfiel. Dann traten sie stumm den Heimweg an.

    »Das wird den Fels, auf dem die Kirche ruht, zum Bersten bringen!« John

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