Die Silberne Festung
Washington, D. C.
Die vom Computer erzeugte Stimme, die durch die abhörsichere Telefonleitung ins Pentagon kam, klang wie Jason Saint-Michaels Stimme. Trotzdem merkte General Stuart sofort, daß er mit einem Anrufbeantworter verbunden war. Aber das war um diese Zeit verständlich: 8.00 Uhr in Washington bedeutete 6.00 Uhr in Colorado. Der Mann brauchte seinen Schlaf.
Als der Piepston ihm das Zeichen zum Sprechen gab, sagte Stuart: »Jason, hier ist Martin Stuart. Ich komme eben von einer Besprechung mit den Vereinigten Stabschefs. Der Präsident und sein Kabinett haben über Bildtelefon daran teilgenommen. Leider habe ich schlechte Nachrichten für Sie. Der Verteidigungsminister ist strikt gegen eine Wiederinbetriebnahme der Raumstation und hat den Präsidenten dazu gebracht, Ihren Vorschlag abzulehnen.
Tut mir aufrichtig leid, Jason, aber Sie sollen aus medizinischen Gründen pensioniert werden. Hampton bleibt Pilot der America. Ihre Besatzung erhält den Auftrag, die Leichen zu bergen und Skybolt in eine Parkbahn zu schießen. Das war’s, Jason. Tut mir wirklich leid…«
Während Martin Stuart den Hörer auflegte, gestand er sich ein, daß er gehofft hatte, mit Saint-Michaels Anrufbeantworter sprechen zu können.
Über die Jahre hinweg waren Jason und er häufig aneinandergeraten, aber er hatte den jungen General stets respektiert und ihn für einen brillanten Kommandeur gehalten. Er hätte ihm nicht gern persönlich mitgeteilt, daß das Space Command seine Dienste nicht mehr wollte. Er konnte nur hoffen, daß Jason sich ins Unvermeidliche fügen würde. Aber hielt er diese Vorstellung wirklich für realistisch?
10
OKTOBER 1992
McAuliffe HTS Spaceport,
Needles, Kalifornien
Das ist nicht mehr das außergewöhnlichste Flugzeug der Welt, dachte Ann, und wir sind keine Besatzung aus hochspezialisierten Astronauten und Wissenschaftlern mehr; das Raumflugzeug America ist nichts anderes als ein Leichenwagen, und wir sind die Sargträger. Man schickt uns los, um schmutzige Arbeit zu verrichten, und die ganze Welt sieht zu.
Zwei Tage vor dem Start verfolgte Ann mit Marty Schultz, wie der Frachtraum der America beladen wurde. Sie standen auf einem Laufsteg über dem großen Raumflugzeug und beobachteten, wie riesige Kräne und ein halbes Dutzend Arbeiter den Frachtraum beluden. Der erste Anblick der America war so eindrucksvoll gewesen, daß Ann fast vergessen hatte, weshalb sie diesen Flug antreten würde – und wie traurig es war, daß Jason nicht mitkommen würde. »Eine Schönheit, eine wirkliche Schönheit!«
hatte sie gesagt, als sie die America erstmals aus dieser Perspektive zu sehen bekommen hatte.
Als erstes hatte Schultz mit Ann einen Rundgang um das große Raumflugzeug gemacht. Im Gegensatz zu den gedrungenen, wenig eleganten Raumfähren war die America ein schlankes, etwas bedrohlich wirkendes Flugzeug. Sie war doppelt so groß wie eine Raumfähre und erinnerte an eine vergrößerte Ausführung des über Mach 3 schnellen Aufklärers SR-71 Blackbird der U.S. Air Force, dem bis zu ihrem Bau schnellsten Flugzeug der Welt.
Ann mußte an Saint-Michael denken. Während ihrer zweitägigen Ausbildung im HTS-Flugsimulator in Little Rock und des Fluges nach Südkalifornien war er nicht mit ihr zusammen gewesen. Obwohl er nicht darüber gesprochen hatte, vermutete sie, daß er von Colorado Springs nach Washington geflogen war, um Einspruch gegen seine Zwangspensionierung zu erheben. Sie bezweifelte allerdings, daß es ihm gelingen würde, die Vereinten Stabschefs davon zu überzeugen, daß die Station wieder in Betrieb genommen werden mußte, und je länger er nichts von sich hören ließ, desto geringer schienen seine Erfolgsaussichten zu werden.
Dann blickte sie wieder in den Laderaum der America. Den größten Teil des Laderaums nahmen zwei Payload Assist Modules (PAM) ein: große Flüssigkeitsraketentriebwerke mit Fernsteuerung und je einem Adapter.
Mit Marty Schultz sollte Ann das Skybolt-Modul von der Raumstation abkoppeln, mit dem PAM verbinden und zuletzt das Triebwerk zünden.
Durch Steuerbefehle, die Falcon Mission Control über das TDRSS der NASA übermittelte, würde das PAM das Skybolt-Modul in eine 1000 Kilometer hohe Parkbahn bringen, in der es einige Monate lang bleiben würde, bis es von einer Raumfähre geborgen werden konnte. Obwohl die America einen gleichgroßen Laderaum besaß, war das Raumflugzeug nicht für den Rücktransport so schwerer Lasten ausgelegt. Das zweite PAM diente als
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