Die silberne Maske
hätten sie nicht gewinnen können. Darum verlegten sie sich auf eine andere Taktik: Ausspähen, kurzer Angriff gegen die Flanke, schneller Rückzug.
Kronnos’ Mörderbande musste Versorgungswagen für Zelte, Ausrüstung und Proviant mitführen, was das Marschtempo drosselte und Pausen erforderte. Zulaimons Hundertschaft hingegen, deren heiliger Kampf sich herumgesprochen hatte, wurde unterwegs mit Nahrung und frischen Pferden versorgt.
Es dauerte nicht lange, dann hatten die Hundert Gerechten ihre Gegner überholt. Jetzt konnten sie bedrohte Städte warnen, Hinterhalte legen und die Ostkrieger effektiver bekämpfen. Das gefiel Sinenomen ganz und gar nicht. Er schickte einen Spion zu ihnen ...«
»Einen Spion? Warum? Wozu?«, fragte jemand hörbar überrascht. Yem konnte den Mann nicht sehen, er saß auf der anderen Seite des Lagerfeuers und wurde von den Flammen verdeckt.
»Na ja, um ihre Schwachstelle zu finden. Dafür sind Spione da! Und Sinenomens Gesandter war gut in seinem Fach. Binnen kürzester Zeit kehrte er zurück. Sinenomen schickte eine Botschaft an Kronnos, die Hundert Gerechten anzugreifen. Und welche List er dabei anwenden müsse, da Zulaimon durch seinen Schwur gebunden war. Das tat Kronnos dann auch.«
Yem verstummte. Nachdenklich starrte er einen Moment vor sich hin, und als er weitersprach, klang seine Stimme düster.
»Kronnos schickte seine Krieger auf einen Weg, der eventuellen Spähern schnell verraten würde, welche Stadt das nächste Ziel war: Die Hundert Gerechten sollten Zeit und Gelegenheit haben, einen Hinterhalt vorzubereiten. Er selbst ritt mit ein paar Männern in die Wälder, um nach versteckten Dörfern zu suchen.
Kronnos wurde bald fündig. Er ließ alle Einwohner töten - bis auf einen Jungen; ein halbes Kind, keine vierzehn Jahre alt. Den nahm er mit.
In Sichtweite der Stadt, wo die Wälder licht wurden und das Auenland begann, stand ein vergessener Hof. Er war bei einem Unwetter zerstört worden, und man hatte ihn aufgegeben. Wilde Pflanzen eroberten seine bröckelnden Mauern, Bäume und dichtes Gesträuch rahmten ihn ein.
Es war der perfekte Platz für einen Hinterhalt.
Kronnos befahl, den entführten Jungen in ein Holzgestell zu schnüren, das ihn größer erscheinen ließ. Die Krieger überzogen es mit einer Uniform, stülpten einen Helm darauf und banden dem Jungen ein Schwert an die Hand.
Wer die Zeit hatte, genauer hinzusehen, konnte den Schwindel entlarven. Die Hundert Gerechten, die in der Nähe des Hofes tatsächlich im Hinterhalt lagen, hatten allerdings keine Zeit. Kronnos jagte ihnen eine Vorhut entgegen, die mit viel Geschrei und Getöse auf sie einstürmte.
Und es kam, was kommen musste.
Sie sahen das Kind nicht in den Reihen der Krieger, nur grausame Hände, die Schwerter führten. Hände, die gemordet hatten, wieder und wieder, ohne Gnade, ohne Sinn. So schossen die Gerechten ihre Pfeile ab auf das blutrünstige Volk des Ostens - und löschten ein unschuldiges Leben aus.
Es war nur ein Pfeil.
Ein einziger Pfeil, der einen heiligen Kampf in ein Schlachtfeld verwandelte und Hundert Gerechte zu Mördern werden ließ. Als Samhain persönlich erschien, um den getöteten Jungen zu holen, nahm er die Ehre und Aufrichtigkeit der Männer mit, brach ihre reinen Herzen, wie sie den Schwur gebrochen hatten, der einst ihre Rettung gewesen war.
Sie hatten nichts mehr, wofür zu leben es sich gelohnt hätte, und so legten sie schweigend ihre Waffen nieder.
Kronnos’ Leute töteten einen Gerechten nach dem anderen. Und Samhain musste dabei Zusehen, und es war ihm verwehrt, den Hundert Gerechten die Drei Fragen zu stellen, da sie keine Ehre mehr besaßen. Er konnte nur noch ihre Schatten in seinen Schutz nehmen und nach Annuyn geleiten. Doch bevor er das tat, griff auch er nun zu einer List. Der Graue Herr war überaus erzürnt darüber, wie er von Sinenomen hereingelegt worden war, und bat die helfenden Götter um einen letzten Gefallen.
Die Götter, entsetzt über den Verlauf und weil sie den Ostkriegern Einhalt gebieten mussten, stimmten zu und schufen ein Schlupfloch für die Männer aus Al-Magundh: Sie ließen ihre Tränen auf die Toten fallen; heilige Tränen, die unantastbar waren, selbst für Samhain, so hatte er es selbst verfügt. Ein See bildete sich über den Toten, und ihre Schatten konnten nicht nach Annuyn gelangen.
Die Ostkrieger allerdings verließ das Glück. Sie mordeten sich weiter durch das Land, aber als Sinenomen sah, dass Kronnos sich
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