Die Sirenen von Kalypso
helfen, sollte es notwendig werden. Verdammt Zweifel und Skepsis aus euren Gedanken. Leugnet die Worte der Außenweltler, die behaupten, es gäbe keine Magie. Vertraut den überlieferten Werten. Die, die sind, die elementaren Gewalten, werden es euch lohnen. Und nur das ist von Bedeutung, alles andere nebensächlich.
Prophetenschule, Leseitis
Benutzt die Wege und Straßen, die gekennzeichnet sind. Hütet euch aber davor, im Sturm oder einem anderen Unwetter von den vorgezeichneten Routen abzuweichen. Unbekannte Gefahren mögen im Niemandsland lauern. Und sollte es doch notwendig werden, das Land-das-niemand-kennt zu betreten, so nur in Begleitung eines starken und erfahrenen Propheten.
Tergin-Anweisung an Karawanenführer
»Du hast dich also entschieden?« Die Geschichtenerzählerin blickte den Soldaten an ihrer Seite nicht an.
Tajima Nimrod nickte. »Ja, ich habe mich entschieden.«
»Und dein Entschluß ist unumstößlich?«
Wieder das Nicken.
»Nun gut.« Sie wandte den Kopf. Ihre dunkle Haut schien im Halbdunkel ihres Quartiers von innen heraus zu glühen. »Es ist möglich, daß du es eines Tages bedauern wirst.« Sie erhob sich und zog die Vorhänge zur Seite. Durch das schmale Fenster fiel das Licht des Weißen Zwerges. Der Glühball hatte den Horizont nahezu erreicht. Ihnen blieben nur noch dreißig Minuten, kaum mehr.
»Du hast gesagt, es gäbe eine Möglichkeit für mich, die Mentalabhängigkeit zu überwinden. Eine Möglichkeit, die mit großer Gefahr verbunden ist …«
»Ja.«
Ihr Gesicht wirkte wie gemeißelt. Ihr Blick war nach innen gerichtet. In diesen Sekunden machte sie den Eindruck eines Orakels. »Ich wußte, du würdest dich so entscheiden. Ich habe bereits alles vorbereitet.«
Tajima sah in ihre Augen, und er erblickte das Sterbegesicht seines Intimfreunds. Vorbei. Aus. Für immer. Er war allein und einsam. Ja, er hatte sich entschieden, und diese Entscheidung war nun unumstößlich. Was blieb ihm noch? Nichts. Nur Leere im Innern, die ausgefüllt werden mußte, Fragen, die nach Antwort verlangten. Er konnte nicht anders handeln, jetzt nicht mehr.
»Diese Möglichkeit, von der du gesprochen hast … sag sie mir, Lystra.«
»Es ist schwer. Sehr schwer.«
»Sprich.«
»Du wirst sterben müssen, um ein neues Leben zu beginnen.« Sie trat zur Tür. »Komm, Tajima. Verlieren wir keine Zeit.«
Er erhob sich ebenfalls. Sie öffnete die Tür und blieb noch einmal stehen. »Ich kann dir jetzt nicht mehr helfen. Aber ich habe jemanden gefunden, der dich das Sterben lehren kann.« Ihre Hand berührte sein Gesicht. Wärme flutete für einen Augenblick durch seinen Körper. Und in ihrem Gesicht war für einen Atemzug erneut jener sonderbare, undeutbare Ausdruck: Mitleid, gepaart mit Widerwillen, aber auch Entschlossenheit und Ausweglosigkeit. Es verwirrte Tajima. Es machte ihn unsicher. Aber er stellte keine Frage. Sie streifte einen Ring von ihrem Finger: der Splitter eines Schwarzrubins, einer in Zeitlosigkeit eingefrorenen Träne gleich, der Ausdruck von Trauer und Melancholie.
»Nimm diesen Ring, Tajima. Vielleicht kann er dir einmal helfen, sollte es notwendig werden. Lege ihn niemals ab. Trage ihn immer.«
»Warum?«
»Nein, ich kann es dir nicht sagen …« Ihre Worte verklangen und wurden vom lauen Wind davongetragen. Der Weiße Zwerg berührte nun nahezu den Horizont. »Komm, Tajima. Eile ist geboten.«
Sie schritten durch Straßen, in denen jetzt die Lichter aufflammten. An Gebäuden vorbei, aus denen Lachen klang. Lystra schritt immer schneller aus, und Tajima hatte bald Mühe, mit der Geschichtenerzählerin Schritt zu halten. Aus dem inneren Bereich der Domäne heraus, an den Gehegen der Streitlibellen, Xanthippen und Kriecher vorbei. Zirpende und grunzende Laute folgten ihn in die Stille der einsetzenden Dämmerung und blieben schließlich hinter ihnen zurück, als sie das Grenzland erreichten. Lystra deutete auf einen Spalt im Boden. Muffiger Geruch kroch daraus hervor.
»Dort unten?«
»Ja, dort unten. Jemand, der dir helfen kann.« Sie sah ihn ein letztes Mal an. »Hör jetzt gut zu, Soldat. Das Tor, das nach Kalypso führt, ist weit entfernt, tief im Land-das-niemand-kennt.«
Er lauschte ihren Worten und verankerte sie in den Tiefen seines Geistes. Das Wissen um den Ort würde wieder emporsteigen, wenn es an der Zeit war.
»Und jetzt … geh!«
Sie wandte sich ohne ein weiteres Wort um. Tajima sah ihr nach. Die Tränen in ihren Augen konnte er nicht mehr
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