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Die Sisters Brothers: Roman (German Edition)

Die Sisters Brothers: Roman (German Edition)

Titel: Die Sisters Brothers: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Patrick deWitt
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ging es Ihnen noch gut, dann plötzlich nicht mehr.«
    Schulterzucken meinerseits. Unten auf der Straße sah ich jemanden, der mir bekannt vorkam, ohne dass ich sagen konnte, welche Rolle er in meiner Vergangenheit gespielt hatte. Sein Gang war schwerfällig, schwankend, ziellos. »Ich kenne den Mann«, sagte ich. Die Frau trat ebenfalls ans Fenster, doch der Mann war bereits außer Sichtweite. Sie strich sich ihr Kleid glatt und fragte: »Was ist jetzt? Begleiten Sie mich oder nicht?«
    Ich aß etwas Zahnpulver, und wir gingen Arm in Arm in die Hotelhalle. Als wir an Mayfields offener Tür vorbeikamen, sah ich den großen Boss besinnungslos mit dem Gesicht nach unten auf dem Schreibtisch liegen, inmitten von Flaschen und Zigarrenasche. Nicht einmal seine Glöckchen standen noch aufrecht. Neben ihm auf dem Boden schlief splitternackt eine großgewachsene Hure. Ihr Kopf schaute von mir weg, doch Bauch und Brüste bewegten sich im Rhythmus ihres Atems. Es war für mich ein Bild absoluter moralischer Verkommenheit, wobei der Anblick ihres wilden, verfilzten Schamhaars vielleicht das Beunruhigendste war. Ich entdeckte sogar meinen Hut wieder. Er hing ganz hinten an einem Bockgeweih. Ich ging ihn holen, und auf dem Rückweg, als ich gerade die Asche von meinem Hut klopfen wollte, stolperte ich über den Spannrahmen, aus dem, wie ich erst jetzt bemerkte, das rote Bärenfell verschwunden war. Irgendwer hatte es ziemlich grob aus der Halterung geschnitten. Ich blickte zu Mayfields Buchhalterin hinüber, die im Türrahmen stehen geblieben war. Sie hatte die Augen geschlossen und ließ stumm den Kopf kreisen. Ich dachte bei mir: Diese Frau weiß wirklich weder ein noch aus.

Die Straße war zu Schlamm geworden. Um sie zu überqueren, war man gezwungen, über vereinzelte Holzplanken zu balancieren. Der Frau indes schien genau das Vergnügen zu machen, und ihr Lachen klang hell durch die Morgenluft. Für mich war es fast ein und dasselbe, dieses Lachen und die klare Luft, denn beides war so willkommen und reinigend. Noch seltsamer war vielleicht, dass ich unseren kleinen Ausflug als echtes Abenteuer betrachtete, ich, der ich schon so viele Gefahrensituationen gemeistert hatte. Aber da hielt ich ja auch keine schöne Frau an der Hand, der ich über die Straße helfen konnte. Mich überkam selber zwar immer wieder die Branntwein-Übelkeit, doch selbst das hatte in diesem Moment beinahe eine komische Note. Als wir schließlich auf der anderen Seite anlangten, waren meine Stiefel schlammbespritzt, allein ihre Schuhe glänzten makellos, wofür sie die Worte sprach: »Ich danke Ihnen.« Wohlbehalten auf dem hölzernen Gehsteig angekommen, hielt sie noch für ein Halbdutzend Schritte meinen Arm, dann ließ sie los, um sich die Frisur zu richten. Ich glaube zwar nicht, dass dies wirklich nötig war, aber offenbar zwangen sie der Anstand dazu, sich von mir zu trennen. Dass sie sich gern noch etwas länger an mich geklammert hätte, davon glaubte ich ausgehen zu dürfen.
    Ich fragte: »Gefällt Ihnen die Arbeit bei Mayfield?«
    »Er zahlt gut. Ansonsten ist er ein schwieriger Mensch – weil er sich ständig beweisen will. Früher, bevor er sein Vermögen machte, war er anders.«
    »Nun ja, so, wie er sein Geld aus dem Fenster wirft, wird er sein Vermögen nicht lange behalten. Vielleicht wird er dann wieder der Alte.«
    »Das glaube ich nicht. Wenn sich etwas ändert, dann zum Schlechteren, nicht zum Besseren. Von jetzt an wird er nur noch unangenehmer werden.« Da ich stumm blieb, fügte sie hinzu: »Mehr ist dazu nicht zu sagen.« Erneut fasste sie meinen Arm. Darüber war ich unendlich stolz und stand plötzlich mit beiden Beinen im Leben, ohne Gleichgewichtsprobleme. Ich sagte: »Wie kommt es, dass meine Tür heute Morgen abgeschlossen war?«
    »Weißt du das wirklich nicht mehr?«
    »Entschuldigung, nein.«
    »O Gott, wie stehe ich jetzt da?«
    »Was ist denn passiert?«
    Sie überlegte einen Moment und sagte dann: »Wenn du das wirklich wissen willst, fällt es dir sicher von selbst wieder ein.« Dann lachte sie über etwas, das ihr gerade im Kopf herumging, und ihr Lachen war hell und glitzerte wie Brillanten.
    »Dein Lachen fühlt sich an wie kühles Wasser«, sagte ich und hätte gleichzeitig heulen können. Komisch, wie leicht einem die Tränen kommen können.
    »Warum plötzlich so ernst?«, fragte sie.
    »Ich habe eben verschiedene Seiten.«
    Bald hatten wir den Stadtrand erreicht. Noch einmal wechselten wir auf Planken die

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