Die Sisters Brothers: Roman (German Edition)
Straßenseite und machten uns auf den Rückweg. Ich dachte an mein Hotelzimmer und das Bett, versuchte mir vorzustellen, welchen Abdruck mein massiger Körper auf der Decke hinterlassen hatte. Dann fiel es mir ein, und ich sagte: »Er ist der Weinende.«
»Wer?«, fragte sie.
»Der Mann, den ich von Fenster aus gesehen habe. Ich sagte doch, er kommt mir bekannt vor. Ich bin ihm vor ein paar Wochen im Oregon-Territorium begegnet. Kurz hinter Oregon trafen mein Bruder und ich auf einen Kerl, der sein Pferd am Zügel führte. Er war der Verzweiflung nahe, wollte von uns aber keine Hilfe annehmen. Offenbar hatte ihn der Kummer um seinen Verstand gebracht.«
»Und jetzt? Meinst du, sein Schicksal hat sich gewendet?«
»Es sah nicht so aus.«
»Der Ärmste!«
»Für jemanden in seinem Zustand, der auch noch zu Fuß unterwegs ist, ist er aber gut vorangekommen.«
Pause. Sie ließ meinen Arm los.
»Gestern Abend sprachst du von einer dringenden Angelegenheit in San Francisco.«
Ich nickte. »Ja, wir sind hinter einem gewissen Hermann Warm her, der sich dort aufhalten soll.«
»Was bedeutet das, ihr seid hinter ihm her?«
»Er hat sich etwas zuschulden kommen lassen, und uns hat man beauftragt, ihn der Gerechtigkeit zu überantworten.«
»Ihr seid aber keine Männer des Gesetzes?«
»Wir sind das Gegenteil von Männern des Gesetzes.«
Ihre Miene wurde nachdenklich. »Ist dieser Warm wirklich so böse?«
»Ich weiß es nicht, das ist ja die große Frage. Angeblich hat er etwas gestohlen.«
»Was denn?«
»Alles, was Menschen so stehlen. Geld wahrscheinlich.« Bei dieser Lüge war mir nicht wohl, und ich blickte umher, um mich abzulenken. »Wenn ich ehrlich sein soll, glaube ich nicht mal, dass er überhaupt etwas gestohlen hat, nicht einen Penny.« Sie senkte den Blick, und ich lachte kurz. Ich sagte: »Ich würde mich nicht wundern, wenn er vollkommen unschuldig wäre.«
»Du bist in deinem Beruf also üblicherweise hinter Leuten her, die du eigentlich für unschuldig hältst?«
»Üblich ist in meinem Beruf so ziemlich gar nichts.« Auf einmal wollte ich nicht mehr darüber reden und sagte ihr: »Ich will nicht mehr darüber reden.«
Doch das überhörte sie und fragte: »Gefällt dir dein Beruf?«
»Es kommt auf den Auftrag an. Manche sind der reine Spaziergang, andere sind die Hölle.« Ich zuckte die Achseln. »Sobald man damit Geld verdient, hat das, was man dafür tun muss, eine gewisse Respektabilität. Ich denke, es ist kein Geringes, wenn einem das Leben eines anderen anvertraut wird.«
»Wohl eher der Tod des anderen«, korrigierte sie mich.
War ich bisher noch im Zweifel gewesen, ob sie mich wirklich begriff, so war dieser jetzt ausgeräumt – und ich insofern beruhigt, dass ich nicht ins Detail gehen musste. »So kann man es auch ausdrücken«, sagte ich.
»Hast du jemals daran gedacht aufzuhören.«
»Ja, habe ich«, sagte ich.
Sie fasste wieder meinen Arm. »Und was willst du machen, wenn dein Auftrag erledigt ist?«
Ich sagte es ihr. »Mein Bruder und ich besitzen außerhalb von Oregon City ein kleines Haus. Die Gegend ist schön, aber das Haus ist zu eng, und außerdem zieht es herein. Ich würde am liebsten woanders wohnen, habe aber nicht die Zeit, mir etwas zu suchen. Charlies Freunde sind insgesamt doch recht unangenehm. Sie respektieren nicht einmal die normale Nachtruhe.« Aber da sie meine Antwort eher beunruhigte als zufriedenstellte, sagte ich: »Warum fragst du?«
»Ich hoffe, dass wir uns dann wiedersehen.«
Da schwoll mir die Brust wie eine schmerzende Wunde, und ich dachte: Was bin ich doch für ein Esel! »Diese Hoffnung wird sich erfüllen!«, sagte ich.
»Aber wenn du jetzt gehst, sehe ich dich wohl nie wieder.«
»Ich komme zurück, ich gebe dir mein Wort.« Doch die Frau glaubte mir nicht oder nicht ganz. Sie sah mir ins Gesicht und bat mich, die Jacke auszuziehen, was ich tat. Daraufhin zog sie von irgendwoher ein hellblaues Seidentuch hervor und band es mir mit einem hübschen Knoten um den Hals. Sie trat zurück, um mich erneut anzusehen. Sie war sehr traurig und schön, ihre Augen waren feucht und schwer von dem Puder, und ihr Blick hatte etwas Beschwörendes. Ich legte meine Hände auf den Stoff, aber mir fiel nichts ein, was ich hätte sagen können.
Sie sagte: »So wie jetzt sollst du es immer tragen, dann denkst du an mich, wenn du es siehst, und erinnerst dich an dein Versprechen zurückzukommen.« Lächelnd fasste sie an mein Halstuch. »Wird dein
Weitere Kostenlose Bücher