Die Sisters Brothers: Roman (German Edition)
seinem Versteck kam. Er hielt sich schmerzhaft den Arm, suchte die Verwundung aber so gut es ging zu überspielen. Man sah ihm an, dass er über die neue Lage beunruhigt war. Gleichzeitig beobachtete ich Charlie und konnte mir eigentlich ausrechnen, was er am liebsten zu Morris gesagt oder mit ihm angestellt hätte. Umso größer war meine Erleichterung, als er Morris ohne Groll und sozusagen mit offenen Armen willkommen hieß und vorschlug, die Vergangenheit ruhen zu lassen. Stumm erwiderte Morris seinen Händedruck. Mir gab er übrigens nicht die Hand, sondern reichte mir schulterzuckend seinen silbernen Flachmann. Er hatte sich sehr verändert. Sein Schnäuzer sah aus wie bei einem Walross, und seine Augen waren rot und verquollen. Er sagte: »Ich bin müde, Hermann!« Warm sah ihn fürsorglich an. »Es war ein langer Tag, mein Freund, leg dich schlafen. Wir gehen alle schlafen, und morgen früh machen wir zu viert weiter.« Morris sagte nichts mehr und ging in sein Zelt. Ich nahm einen Schluck aus der silbernen Flasche und gab sie an Charlie weiter. Er trank und gab sie Warm, der sie nach einem kleinen Schluck zuschraubte und in die Tasche steckte, als wolle er sagen: »Das reicht für heute.« Dann strich er sich mit angefeuchteter Hand das Haar glatt und zog sich die Revers gerade, alles wie in Trance. Er gab sich wirklich große Mühe, seine Zurechnungsfähigkeit unter Beweis zu stellen.
Wir kamen überein, dass mein Bruder und ich die Hälfte des gewonnenen Goldes bekommen sollten, während die andere Hälfte an die Firma ging, wie Warm es nannte.
»Die Firma, das bist du und Morris?«, fragte Charlie.
»Richtig. Und wir tragen unseren Profit auch nicht gleich in den nächsten Saloon, sondern investieren in Zukunftsprojekte, die noch ehrgeiziger sind als das jetzige – leider auch teurer. Aber wenn es so läuft, wie ich es mir vorstelle, wird die Firma schnell wachsen, und wir können mehrere Claims gleichzeitig ausbeuten. Dadurch wiederum gewinnen wir weiter an Erfahrung und können neue, noch bessere Methoden entwickeln. Was euch angeht, schlage ich vor, ihr arbeitet erst einmal auf diesem Claim mit, wenn’s geht, ohne uns die Kehle durchzuschneiden. Dann sehen wir weiter.«
Ich fand das nur fair. Warm kratzte sich am Unterschenkel, und ich fragte: »Habt ihr gestern Abend viel Gold gefunden?«
Er sagte: »Es geht. Wir waren so fasziniert von dem Anblick des schimmernden Goldes, dass wir längst nicht so viel herausgeholt haben, wie wir hätten können. Aber selbst in der kurzen Viertelstunde, die uns blieb, bis das Gold wieder unsichtbar wurde, konnten wir mehr einsammeln, als sonst in einem Monat in der Goldpfanne landet. Die Formel funktioniert gut, sogar besser, als ich gedacht hätte.« Warm war sichtlich stolz auf seinen Erfolg, und ich gebe zu, in diesem Moment beneidete ich ihn. Er fuhr nun die Ernte ein, sowohl finanziell als ideell, denn hinter allem steckte Intelligenz und harte Arbeit, was ich von mir und meinem Lebensweg nicht behaupten konnte, im Gegenteil, da war alles hirn-, herz- und gedankenlos. Charlie hatte ebenfalls zugehört, aber in seiner Miene war nichts von Bewunderung für Warm zu erkennen, eher eine unklare Neugier. Ich glaube nicht, dass Warm unser Interesse an seiner Person überhaupt bemerkte, denn er sprach gleich weiter: »Es war das Schönste, was ich je gesehen habe, Gentlemen. Auf wenigen Metern Hunderte Goldkörner, und jedes einzelne leuchtet so hell wie eine Kerze. Das nenne ich einmal eine befriedigende Arbeit, wenn man nur ins Wasser gehen und die Nuggets auflesen muss.« Die Erinnerung daran glitzerte noch in seinen Augen, und auch mich durchlief ein Zittern, als mein Blick jetzt über den Fluss schweifte und ich mir vorzustellen versuchte, was Warm gerade beschrieben hatte. »In vierundzwanzig Stunden wisst ihr mehr.«
Abermals kratzte er sich am Schienbein, stärker als zuvor. Sogar im Schein des Lagerfeuers fiel auf, wie rot und entzündet seine Haut dort war. Er nickte, als er meinen fragenden Blick sah und sagte: »Das ist übrigens etwas, womit ich nicht gerechnet habe. Ich wusste zwar, dass das Mittel aggressiv ist, dachte aber, dass es im Wasser ausreichend verdünnt wird. Auf die Dauer brauchen wir etwas, das unsere Beine schützt.« Da rief ihn Morris aus dem Zelt, und Warm entschuldigte sich. Als er zurückkehrte, war seine Miene ernst, und er gestand uns, dass sich Morris immer noch nicht an das Leben in freier Natur gewöhnt habe. »Gott weiß,
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