Die Sisters Brothers: Roman (German Edition)
ich verdanke ihm viel, aber ihr hättet ihn sehen sollen, als er seine Püderchen und Fläschchen in San Francisco lassen musste. Mir ist ohnehin schleierhaft, wie er das ganze Zeug von Oregon City nach Kalifornien transportiert hat.
»Wie geht es seinem Arm?«, fragte ich.
»Es ist nur ein Kratzer, da besteht keine Gefahr. Aber seine Moral ist hinüber, nicht zuletzt, weil ihr hier seid. Und seine Beine tun ihm weh, sie sehen übrigens schlimmer aus als meine. Sagtet ihr nicht etwas von einer Medizin? Vielleicht würde ihn das schon beruhigen: Wenn er sähe, dass ihr zu eurem Wort steht.«
Charlie schickte mich zu unserem Lager zurück, um unsere Sachen zu holen, während er und Warm an den abschließenden Klauseln feilten. Als ich zusammen mit seinem schwer beladenen Pferd Nimble (das nun unser beider Sättel und Taschen zu tragen hatte) wieder da war, hatte Charlie schon die drei toten Brüder ans Feuer geschleift, eine Maßnahme, die ich sofort verstand, aber Warm nicht. »Sollten wir sie nicht besser irgendwo im Wald deponieren?«, fragte er. »Ich habe keine Lust, morgen früh als Allererstes ihre Visagen zu sehen.«
»Keine Angst, die Sonne wird ihnen nicht mehr scheinen«, erwiderte Charlie und zog Nummer eins ins Feuer.«
»Was machst du da?«, fragte Warm.
»Hast du zufällig noch etwas Lampenöl übrig.«
Erst da begriff Warm. Wortlos brachte er das Öl, und ich gab ihm dafür den Alkohol und das Betäubungszeug. Er ging damit ins Zelt zu Morris, während ich Charlie dabei half, die Leichen zu beseitigen. Wir tränkten sie von Kopf bis Fuß in Öl, und bald schon stand der ganze Haufen in Flammen und brannte lichterloh. Ich aber fragte mich, was aus meiner Idee von einem ruhigeren Leben geworden war. Dann tauchte Warms Gesicht im Zelteingang auf. Eine Weile sah er dem grausigen Spektakel zu, dann sagte er zu niemandem speziell: »Für heute reicht’s mir.« Sein Kopf verschwand, und ich war wieder mit meinem Bruder allein.
Mein Bruder rollte schon seine Decke aus, aber ich hätte ihn gerne noch etwas gefragt, nämlich was sein Herz zu alledem sagte und ob er endlich die einzig mögliche moralische Entscheidung getroffen habe. Ich wusste jedoch nicht, wie ich es anstellen sollte, mir fehlten die Worte, und außerdem hatte ich Angst vor der Antwort und war auch selber todmüde. Kaum hatte ich mich niedergelegt, sank ich in einen bleiernen, traum- und bodenlosen Schlaf.
Als ich aufwachte, schien mir die Sonne ins Gesicht. Der Flussrauschte, und Charlie war nicht da. Steifbeinig stand Warm vor der Asche des Scheiterhaufens. Er hielt einen Knüppel in der Hand, als wolle er damit zuschlagen. Er deutete auf einen verkohlten Schädel: »Jetzt schau mal, was ich damit mache.« Viel Kraft brauchte er nicht, der Schädel zerfiel schon bei leichter Berührung. »Hier siehst du, was die Krone der Schöpfung zu erwarten hat.« Seine Worte hatten einen bitteren Unterton, sodass ich mich veranlasst sah zu fragen: »Du gehörst wohl nicht zu denen, die Gott fürchten, Warm?«
»Das stimmt. Und ich hoffe, du auch nicht.«
»Ich weiß nicht.«
»Du hast bloß Angst vor der Hölle. Darauf läuft es doch bei jeder Religion hinaus: Angst vor einem Ort, an dem man nicht sein möchte. Es gibt nicht einmal die Möglichkeit, sich per Selbstmord davonzustehlen.«
Ich aber dachte: Ich bin noch nicht richtig wach und rede schon von Gott, warum? Warm wandte sich wieder den Ascheresten zu. »Ich nehme an, das Hirn wird komplett zerkocht«, sinnierte er. »Die Hitze verwandelt es in Wasser, und das Wasser verdampft. Ein kleines Dampfwölkchen, mehr ist dieses kostbare Organ am Ende nicht.«
»Wo ist Charlie?«
»Charlie und Morris sind schwimmen gegangen.« Warm entdeckte den nächsten Schädel und pulverisierte ihn auf dieselbe Weise wie den ersten.
»Zusammen?«, fragte ich.
Warm blickte flussaufwärts und sagte: »Morris klagte über seine wunden Beine, und die beiden dachten, ein bisschen Abkühlung würde ihm guttun.«
»Und wann war das?«
»Etwa vor einer halben Stunde«, sagte Warm schulterzuckend.
»Kannst du mich hinführen?«
Er konnte. Er war nicht beunruhigt, und ich wollte ihn nicht beunruhigen. Unter dem Vorwand, selber ins kühle Nass steigen zu wollen, drängte ich trotzdem zur Eile. Nur war Warm nicht der Schnellste und hielt bei jeder sich bietenden Gelegenheit umständliche Vorträge, so beim Anziehen der Stiefel. »Was, glaubst du, geschah mit dem ersten Menschen, der sich Blätter oder
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