Die Sisters Brothers: Roman (German Edition)
Stelle komme ich ins Spiel. Ich war jung und ein Hitzkopf, und der Gedanke, dass jemand meinem älteren Bruder etwas zuleide tun wollte, meinem Bruder, der bis dahin immer ein guter Bruder war und mich immer beschützt hat, das konnte mich – ohne Übertreibung – wahnsinnig machen. Mit Charlies Berühmtheit stieg natürlich auch die Zahl der Gegner und damit sein Bedarf an Unterstützung. Schon nach kurzer Zeit war klar: Wer sich mit einem von uns anlegt, legt sich mit allen beiden an. Dabei zeigte sich, und ich weiß bis heute nicht, warum, und wünschte auch, es wäre nicht so, aber es zeigte sich eben, dass uns das Töten lag. Genau deswegen kam auch der Kommodore auf uns zu und bot uns an, für ihn zu arbeiten. Zunächst blieb alles im Rahmen. Es ging lediglich darum, Schulden einzutreiben, ohne Tote. Aber je mehr wir sein Vertrauen gewannen und je mehr wir dabei verdienten, desto mehr gehörte auch das Töten zum Geschäft.« Warm hörte interessiert zu, doch so ernst, dass ich lachen musste. Ich sagte: »Jetzt mach nicht so ein Gesicht, Warm, in den wesentlichen Punkten gebe ich dir ja recht. Außerdem wird dieser Auftrag mein letzter sein. Das habe ich schon zu Charlie gesagt.«
Warm blieb stehen und sah mich mit angstvoll-verlorener Miene an. Ich fragte ihn, was los sei, und er sagte: »Warum sagst du dann nicht, dass dein letzter Auftrag dein letzter war? Soll ich das so verstehen, dass du diesen noch durchziehen willst?«
Wir waren an einer Flussbiegung angekommen, wo ich Charlie schon sehen konnte. Er stieg gerade aus dem Wasser und ging zu seinen Klamotten am Ufer. Hinter ihm trieb Morris im Wasser. Er trieb mit dem Bauch nach oben und rührte sich nicht. Als Charlie uns sah, lächelte er und winkte. Dann sah ich, wie Morris sich aufrichtete. Ihm war nichts passiert. Er winkte und rief uns etwas zu. Mein Herz raste, doch es fühlte sich an, als sei kein Blut mehr darin. Ich wandte mich wieder zu Warm und sagte: »Da habe ich mich versprochen, Hermann. Wir sind fertig mit dem Kommodore, mein Wort drauf.«
Warm blieb stehen und sah mich an. In seiner Miene spiegelte sich eine Mischung aus Härte, Vorsicht und Erschöpfung, doch war da auch eine innere Glut, ähnlich dem heißen Mittelpunkt einer Kerzenflamme. War dies das berühmte Charisma? Ich weiß es nicht genau. Ich weiß nur, dass Warm echter, überzeugender war als andere.
»Ich glaube dir«, sagte er.
Wir stießen zu den anderen, und Morris rief aus dem Wasser: »Hermann, das musst du versuchen. Es hilft wirklich.« Man hörte ihm an, dass er sich keinen Zwang mehr antat und das Gehabe vom steifen Ehrenmann abgelegt hatte. »Unser kleiner Sonnenschein«, lautete Warms Kommentar, als er sich in den Ufersand fallen ließ. Blinzelnd wegen der Sonne, sah er zu mir herüber und sagte: »Eli, hilf mir mal, die Stiefel auszuziehen.«
Abends dann saß ich zusammen mit Warm am Feuer und wartete darauf, dass es dunkel wurde, denn in der Dunkelheit funktionierte die Formel am besten. Um uns die Zeit zu vertreiben, wollte er, dass ich über mein Leben erzähle, besonders von meinen vielen Abenteuern. Genau dazu verspürte ich überhaupt keine Lust. Tatsächlich wollte ich mich und alles, was aus mir geworden war, nach Möglichkeit vergessen. Deshalb fragte ich umgekehrt Warm über sein Leben aus, was er offenbar lieber tat als ich. Warm sprach gern über sich selbst, allerdings nicht auf diese selbstbezogene Art, die man bei Menschen so kennt. Vielmehr fand er seine eigene Geschichte so ungewöhnlich, dass er sie mit mir teilen wollte, und daher erzählte er sie in einem durch.
Geboren war er 1815 in Westford, Massachusetts. Seine Mutter, gerade fünfzehn Jahre alt, lief von zu Hause fort, kaum war das Kind geboren. Das Kind, Hermann, blieb bei dem Vater zurück, Hans, einem deutschen Einwanderer. Hans war Uhrmacher und Erfinder. Oder wie Warm sagte: »Ein großer Denker, rastloser Tüftler und Problemlöser. Nur seine eigenen Probleme – und deren gab es viele – konnte er nie lösen, denn er war ein … schwieriger Mensch. Oder besser: Vater hatte einige abnorme Angewohnheiten.«
»Als das wären?«
»Unschöne Dinge, über die ich im Einzelnen nicht sprechen möchte. Denn sie berühren einen speziellen Bereich der Perversion und können, nicht nur bei schwachen Naturen, Übelkeit auslösen. Es ist besser, ich fahre einfach fort.«
»Verstehe.«
»Das bezweifle ich, aber genau das mag ich an dir. Es war jedoch der eigentliche Grund für seine
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