Die sizilianische Oper
urplötzlichen und unaufschiebbaren Schlafanwandlungen litt, aufrecht stehend ein. Sein Wachposten war genau vor der halbverschlossenen Tür, die zur Bühne und zur Unterbühne führte. Kaum war er eingedöst, wurden seine Hände, die den Karabiner hielten, schlaff, die Waffe rutschte herunter, schlug mit dem Kolben auf den Fußboden, und ein Schuß löste sich. Der unerwartete, durch die Theaterakustik noch vervielfachte Knall riß alle hoch, Sänger, Musiker und Publikum. Die Kugel streifte die Nase des Bonavia, der wie ein abgestochenes Schwein zu bluten begann und wie ein Nordmeere befahren hatten, schien es wie das schreckliche Pfeifen eines Wals, der harpuniert worden ist. Die Gattin des Herrn Restuccia, die aus tiefem Schlaf gerissen wurde, begriff nicht, was los war, und holte ihre Geheimwaffe hervor: sie schrie. Jetzt muß noch gesagt werden, daß mit den Schreien und Kreischern von Frau Restuccia nicht zu scherzen war. Als man ihr die Nachricht hinterbrachte, daß ihre Frau Mutter gestorben war, tat sie einen einzigen Schrei, und die Fensterscheiben der Nachbarhäuser gingen zu Bruch.
Der laute Schuß, das Geschrei des verwundeten
Soldaten, das fürchterliche »Wohl« des Soprans, die schreiende Frau Restuccia verursachten eine unvorstellbare Panik, auch weil keiner der Anwesenden auf die Bühne schaute. Hätten sie das getan, hätten sie sich alles erklären können, statt dessen traf sie alles unvorbereitet. Entsetzt waren alle sofort auf den Beinen. Es genügte, daß einer losrannte, und schon taten die anderen es ihm nach. Schreiend, fluchend, schimpfend, weinend, flehend und betend stürzten sich einige in die Gänge und stießen dort auf den Widerstand der Soldaten.
Der Sopran, der falsch gesungen hatte, fiel mit einem dumpfen Schlag ohnmächtig auf die Bretter der Bühne.»Ich bin ein Grundschullehrer und habe Familie«, sagte Minicuzzo Adornato, Sohn des Schreiners. »Eine Frau und zwei Kinder«, erklärte er.
Der Commendatore Restuccia steckte sich mit betont langsamen Bewegungen die Zigarre an, was Minicuzzo sehr gekünstelt vorkam.
»Und aus diesem Grund haben Sie den Mund nicht aufgemacht, als Ihr Vater verhaftet wurde, obwohl Sie wußten, daß er so unschuldig war wie Christus am Kreuz?« fragte er nach dem ersten Zug aus der Zigarre.
»Ja, Herr, deshalb«, antwortete der Lehrer, rot vor unterdrücktem Zorn. »Commendatore, ich habe keinerlei Macht, in bin ein Niemand, ein Fußabstreifer. Und die Tatsache, daß ich Familie habe, bedeutet, sobald ich eine einzige Bewegung, den kleinsten Schritt nur mache, den Kopf hebe, protestiere oder laut werde, nimmt der Staat gründlich Maß an mir. Um das Maß voll zu machen, zieht er die Karte, die ihm gerade paßt, und kassiert den ganzen Einsatz ein. Und am nächsten Tag bin ich schon in irgendeinem gottverlassenen Kaff in Sardinien und bringe denen bei, wie man das Wort Italien schreibt. Habe ich mich deutlich ausgedrückt?«
»Der Staat?« erwiderte Restuccia ganz ruhig und sah ihm in die Augen.
»Der Staat, der Staat. Oder glauben Sie vielleicht, der Präfekt sei ein Repräsentant der Gesellschaft für Landwirtschaftsentwicklung? Der Genossenschaft für anhaben, weil er einer von ihnen ist, einer von denen, die den Staat ausmachen.«
»Sie haben recht, aber verzeihen Sie mir eine Frage: Ist Ihr Vater ein Angehöriger Ihrer Familie?«
»Sicher doch.«
»Warum verteidigen Sie ihn dann nicht, wie Sie es, was weiß ich, bei Ihren Kindern oder Ihrer Angetrauten halten würden?«
Minicuzzo Adornato war betroffen und blieb die Antwort schuldig. Der Commendatore hatte kein Erbarmen mit ihm und fuhr fort.
»Eine Familie ist eine Familie, verehrter Freund. Und die muß man verteidigen. Ich bin jetzt hier, bin zu Ihnen gekommen, um Ihnen meine Hilfe anzubieten.«
»Warum?«
»In erster Linie wegen meines Enkels Mariolo. Und zweitens, weil es mir nicht behagt, daß einer, der denkt, dieser Staat ist mit Verlaub ein Scheißstaat, sich dann auch noch zwingt, bis über beide Ohren in dieser Scheiße zu hocken.«
»Lassen wir den Staat sein«, meinte der Lehrer. »Aber was hat Ihr Enkel Mariolo damit zu tun?«
»Sie erinnern sich, daß ich vor fünf Jahren herkam, um mich für das zu bedanken, was Sie für ihn taten?«
»Ich habe meine Pflicht getan. Es war ein lebhaftes Kind und ich …«
»Aber was sagen Sie da bloß?!«
»Das ist die Wahrheit, lieber Freund, die nackte Wahrheit.«
»Reden
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