Die Sklavin des Sultans: Roman (German Edition)
und genauso weiß ist wie er. Der Knabe nähert sich uns mit weit aufgerissenen Augen und einem schäumenden Krug und starrt nervös auf die ungewohnten Turbane und unsere dunkle Haut. Als er mich sieht, reißt er die Augen noch weiter auf und hält Abstand, während er mir mit ausgestrecktem Arm einschenkt, als dächte er, dass ich zwar kein Schweinefleisch esse, aber vielleicht ihn verspeisen könnte. Ich nehme einen Schluck, es ist ein dunkles, bitteres Zeug. »Halt!«, schreit ben Hadou, nachdem er selbst daran genippt hat. »Wenn du ein guter Muselman bist, darfst du keinen Tropfen davon probieren. Es ist Alkohol.«
Der konvertierte Hamza dagegen leert seinen Krug mit wenigen geräuschvollen Schlucken. »In diesem Land gilt es als Beleidigung, ein Bier abzulehnen.«
Al-Attar wirft ihm einen langen Blick durch halb geschlossene Lider zu. »Du bist nur ein konvertierter Wendehals. Von dir erwarten wir sowieso nichts.« Dann ermahnt er die übrigen Mitglieder der Gesandtschaft, die Werte des Islams zu respektieren, solange wir uns in diesem Land befinden. An unserem Verhalten würden die unaufgeklärten Ungläubigen den Sultan messen, daher müssten wir uns durch Bescheidenheit, Mäßigung und tadellose Manieren auszeichnen. »Ihr werdet das, was der Koran verbietet, weder essen noch trinken, ihr werdet höflich sein, Allahs Namen ehren und keine Frauen behelligen, weder körperlich noch mit unzüchtigen Blicken.«
Nach der letzten Ankündigung wechseln mehrere Männer enttäuschte Blicke.
Zwei Tage später erreichen wir unser Ziel. Die Nacht bricht an, und es ist eisig kalt. Während wir uns der breiten Themse nähern, spüre ich, wie mir die kleinen Härchen in der Nase gefrieren. Es bläst ein heftiger Nordwind, und das Gras, auf dem wir reiten, ist steif vom Frost. Es erinnert mich an den Winter im Hohen Atlas. Wir nähern uns London von Osten durch das Marschland, und als wir in die Hauptstraße einbiegen, die in die Stadt führt, werden wir von zahllosen Droschken überholt, wie ich sie noch nie gesehen habe. Die Marokkaner machen große Augen, als wir durch den mächtigen Torbogen des Ald Gate mit den von Zinnen gekrönten Türmen in die Innenstadt einreiten. Als ben Hadou unser Erstaunen bemerkt, erklärt er knapp: »Das Bab al-Raïs ist handwerklich überlegen, dieses Tor ist im Vergleich dazu schlicht und schlecht gearbeitet.«
Wir überqueren den großen Fluss auf einer langen Brücke, die auf beiden Seiten von hohen Gebäuden gesäumt ist und die Straße auf einen etwa drei Meter breiten Weg beschränkt, sodass wir uns dicht aneinanderdrängen, während das Klappern der Hufe und das Rumpeln der Räder unserer Karren laut widerhallen und wir nur gelegentlich zwischen den Häusern einen Blick auf das dunkle Band des Wassers zu beiden Seiten erhaschen können. Mitten auf der Brücke erhebt sich ein großartiges Gebäude mit Ecktürmchen und Kuppeln, dessen kunstvoll vergoldete Fassade funkelt. Bei seinem Anblick tönt ben Hadou: »Das muss der Palast des Königs sein!« Der Mann, der neben mir reitet, ein strammer Kerl mittleren Alters mit leicht ergrautem Haar, der mir erzählt hat, sein Name sei John Armitage und er freue sich, nach fünf langen Jahren in Tanger endlich wieder nach Hause zu kommen, lacht schallend und ruft, das Gebäude sei Nonsuch House, über hundert Jahre alt, und nur ein simples Torhaus, was den Gesandten nachhaltig zum Schweigen bringt.
Die Stadt, in die wir von Norden her einreiten, kommt mir sehr fremd vor mit ihren breiten Verkehrsstraßen und den hohen Steinbauten, grau und weiß unter dem aufgehenden Mond. Ganz anders als die dunkle, nasskalte und rauchige Hölle, von der Doktor Lewis erzählte. Und überall begleitet uns heute, an einem Sonntag, vermute ich, dem heiligen Tag der Engländer, der feierliche Klang von tiefen oder hohen Glocken. Dies wäre in keiner muselmanischen Stadt möglich, denn der Prophet Mohammed hielt Glocken für Teufelszeug. Im Großen und Ganzen ist London ganz anders als die europäischen Städte, die ich kenne – anders als Venedig oder Marseille mit ihren gewundenen Kanälen, schmalen Gassen und eleganten Kaufmannshäusern, obwohl ich hier und da in einem Portikus oder den Säulengängen der großen Gebäude einen Hauch von Florenz oder Bologna wiedererkenne. Nach einer Weile fällt mir sogar eine gewisse Ähnlichkeit mit unserem Meknès auf, offensichtlich wird auch hier vieles abgerissen und neu gebaut. Ich frage John Armitage nach dem
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