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Die Socken des Kritikers

Die Socken des Kritikers

Titel: Die Socken des Kritikers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Werner Schneyder
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Gefühl haben, die hätten auch was anderes werden können.« Es war die Umbaupause zum 2. Akt, die ein Zitherspieler vor dem Vorhang überbrückte.
    »Pass auf«, sagte der junge Mann, »der zweite Akt beginnt mit einem Satz, der so ähnlich klingt wie: ›Ja, hast denn du mein’ Brief net kriegt‹?«
    »Wieso?«, fragte sie.
    »Das muss so sein«, belehrte er. »Das ist die einzige Möglichkeit, dem Publikum zu erzählen, was mittlerweile geschah und was es wissen muss.«
    Der Zitherspieler verschwand unter dünnstem Applaus. Der Vorhang wurde aufgezogen. Ein Mensch trat auf, was einen anderen in Erstaunen versetzte. Der Auftretende sagte: »Ja, hast denn du mein’ Brief net kriegt?«
    »Du bist ein Genie«, flüsterte die Freundin.
    Tags darauf war an andere Schreibarbeiten nicht zu denken. Zu sehr fieberte der junge Mann einer Reaktion der Agentin entgegen. Er hatte – auf Anregung der Freundin – nur die Nerven, einen ihm bekannten Schriftstellerkollegen anzurufen, dessen Namen er schon einige Male auf den Nachspannen des Hauptabendprogrammes gelesen hatte. Er wollte wissen, was man für ein Einstundenbuch derzeit bekäme. Der Kollege nannte einen Durchschnittswert, der die Hoffnungen des jungen Mannes überstieg. Da die Summe mit sechs zu multiplizieren war, kam es im Hausstand des zukünftigen Erfolgsschreibers und seiner Freundin zu tumultartigen Freudenausbrüchen, zur Diskussion von Reiseplänen und zu kleinen Streitereien über die Priorität von Investitionen.
    Als die Agentin den Empfang des Treatments telefonisch bestätigte, sagte sie zunächst – ziemlich unengagiert – etwas von
auf dem richtigen Weg
. Aber dann folgte, was dem jungen Mann, je länger er darüber nachdachte, den Schweiß auf die Stirn trieb: Die große alte Dame von Film und Fernsehen, erfuhr er, hätte wissen lassen, sie könne und wolle das Fernsehen nur anhand eines fertigen Buches überzeugen. Die Geschichten wären gut und schön, aber verkaufen ließe sich die Sache doch nur, wenn man beurteilen könne, ob der Autor auch wirklich stimmige, nämlich für sie stimmige, ihre Persönlichkeit, ihre Wirkungen, ihre Diktion erfassende Drehbücher zu schreiben in der Lage wäre.
    Die Agentin sagte, der Zeitplan sei jetzt einigermaßen dramatisch. Die große alte Dame von Film und Fernsehen hätte in drei Tagen einen Flug gebucht, um den Programmdirektor in dessen Landhaus in der Provence zu treffen.
    »Da muss sie das Buch mitnehmen, da muss sie es in Händen haben, wenn wir eine positive Entscheidung haben wollen. Sie müssen mir also das Probebuch einer Folge bringen, die suchen Sie sich aus, eine, in der möglichst alles vorkommt, wo sie alles zeigen kann, das wird die einzige Möglichkeit sein, denn Sie werden ja wohl bis zum letzten Moment schreiben müssen. Ich werde dann mit dem Buch zum Flughafen fahren und es ihr in die Hand geben.«
    Das seien sicherlich schwierige Bedingungen, gestand die Agentin ein, aber der junge Mann würde seine Chance wohl ermessen und nutzen wollen. Das Gespräch hatte am späten Vormittag stattgefunden. Zur Verfügung standen also – bis zum ersten Frühzug am übernächsten Tag – zweieinhalb Tage.
    »Das sind an die sechzig Seiten pro Tag«, stammelte der junge Mann. Er wusste über das Verhältnis von Drehbuchseite und Spieldauer Bescheid.
    »Du schaffst es«, sagte die Freundin. »Wenn ich dir helfe, schaffst du es. Ich koch dir einen Kaffee.«
    Der junge Mann entschied sich für das Buch der Folge zwei, die alle Ingredienzen der Serie enthielt und begann, die Geschichte als Drehbuch aufzulösen, in der die Wandertruppe ein Winterquartier finden und in diesem Ort die Spielerlaubnis, die
Permission
, erhalten wollte.
    Er ließ sie in einem Dorf in Mähren ankommen. Die erste Begegnung mit den Kindern des Ortes. Das Lauffeuer der Information. Die verschiedenen Reaktionen der Bürger. Im Gegenspiel die Erinnerungen der Komödianten an Erfahrungen in dieser Region. Die Erwartungen für diesmal. Die Vorsprache der Prinzipalin beim Bürgermeister. Davor noch erste Schwierigkeiten mit dem. theatermüden Sohn. Und dann kaum eine Chance, die Permission zu bekommen, da eine andere Theatergruppe im vorangegangenen Winter den Ruf der Branche ruiniert hatte. Auftrag des Bürgermeisters, einen einflussreichen Bierbrauer zu überzeugen, da von dessen Gunst die Wiederwahl des Bürgermeisters abhing.
    An dieser Stelle etwa war der junge Mann auf Seite 25. Er streckte und dehnte sich, gab an, einen

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