Die Söhne der Insel: Roman (German Edition)
Ladung Seide, die in Kürze verschifft werden soll«, rief ihm eine Frau in Grün von der Tür her zu – eine Illusion, die den Eindruck vermitteln sollte, dass Nightfall ein blühendes, wohlhabendes Reich war. Ihr Blick wanderte über die Neuankömmlinge hinweg und blieb an Dominor hängen, der höflich stehen geblieben war und seine Begleiter so gezwungen hatte, es ihm gleichzutun. »Ich habe Ihrer Majestät vor einigen Monaten gesagt, dieses Jahr würden wir nur zehn Tonnen Rohseide produzieren können, aber da wir einen schönen Sommer und somit ideales Wetter für Seidenraupen hatten, haben wir es auf zwölf Tonnen gebracht, für die die fälligen Steuern bereits entrichtet wurden. Leider ist die Ernte der antihi -Pilze aus demselben Grund schlechter ausgefallen als erwartet, daher wird der Preis für scharlachrote Farbe steigen. Ich entschuldige mich im Namen der Webergilde dafür.«
»Ich werde es Ihrer Majestät ausrichten, Lady Risia. Oh – Lady Risia of Caston, dies sind Lord Kemblin Aragol, seine Söhne und einige Mitglieder der Besatzung seines Schiffes, das in Whitetide Bay liegt. Sie kommen aus dem Unabhängigen Königreich Mandare.«
Die Frau musterte die neun Männer, streckte etwas verspätet die Hand aus und schenkte ihnen ein höfliches, aber
reserviertes Lächeln. »Ich freue mich, Euch kennenzulernen, Lord Kemblin.«
»Lord Aragol«, berichtigte er, ergriff die Hand der Illusion und beugte sich mit kühler Förmlichkeit darüber. »Ich bin erstaunt, dass Ihr unsere Sprache beherrscht, und noch dazu so fließend.«
»In dem Moment, wo Ihr den Fuß auf unser Land gesetzt und das erste Wort gesprochen habt, haben wir alle Eure Sprache erlernt. Für uns zählt nicht, welche Sprache wir gerade sprechen, und die Höflichkeit gebietet es uns, unseren Gästen die Verständigung mit uns so leicht wie möglich zu machen.« Dominor nickte der Illusion zu, als der Lord ihre Hand freigab, und ging weiter. »Folgt mir bitte. Ihre Majestät ist es nicht gewohnt, dass man sie warten lässt.«
Das Stimmengewirr der illusionären Höflinge in der zum Thronsaal umgestalteten Halle verstummte, als er über den Läufer aus rotem Vorhangsamt schritt. In der Mitte des Raumes blieb er stehen, wandte sich zu dem Podest und verkündete mit lauter, vernehmlicher Stimme: »Eure Majestät, Eure Hoheit, Höflinge von Nightfall, es ist mir eine Ehre, Euch Seine Lordschaft Kemblin Aragol, Graf der Westlichen Marschen, Abgesandter von König Gustavo dem Dritten des Unabhängigen Königreichs Mandare weit im Osten von hier, seine Söhne Sir Kennal Aragol und Sir Eduor Aragol und ihre Begleiter vorzustellen. Meine Herren, blickt auf Ihre Majestät, Königin Kelly von Nightfall, Abkömmling des höchst ehrenwerten Hauses Doyle, Beschützerin ihres Volkes, die lieblichste Blume des östlichen Ozeans und auf Lord Saber, Gemahl Ihrer Majestät, Graf von Corvis, General der Armee und Lordprotektor Nightfalls.«
Kelly, die kerzengerade auf ihrem provisorischen Thron saß, nickte majestätisch. Die Krone, die Saber ihr zur Hochzeit geschenkt hatte, hatte sie abgelegt; es widerstrebte ihr,
dieses Symbol des katanischen Adels zu tragen, nachdem sie sich selbst zur Königin ausgerufen und Nightfall zu ihrem von Katan unabhängigen Königreich erklärt hatte.
Stattdessen trug sie eine mit kubisch geschliffenen Zirkonen besetzte Krone, die sie mit Morganens Hilfe aus einem Kostümverleih entwendet hatte. Zum Ausgleich hatte sie einen Umschlag mit einem echten Diamanten – einem Zehnkaräter, der mehr wert war als der gesamte falsche Schmuck in dem Laden – sowie einen in Druckbuchstaben verfassten Brief mit einer kurzen Erklärung zurückgelassen. Morganen hatte natürlich kein amerikanisches Bargeld in seinem Turm herumliegen, aber über magisch hergestellte Edelsteine schien er im Überfluss zu verfügen.
Sie hatte gestern die Zweifel, die die Worte des jüngsten Zwillings in ihr gesät hatten, energisch beiseitegeschoben und sich zusammen mit ihm darangemacht, alles zusammenzutragen, was sie für den heutigen Tag benötigte. Während sie auf der Suche nach geeigneten Requisiten per Fernsicht durch ihre alte Welt gestreift waren, hatte Morganen die falsche Krone in einem Schaufenster entdeckt und gemeint, die achtzackigen Sterne, mit denen sie verziert war, seien ein Fingerzeig des Schicksals, die Krone sei für sie wie geschaffen. Und nachdem er sie durch den Spiegel herübergeholt und ihr aufgesetzt hatte, hatte Kelly
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