Die Söhne der Insel: Roman (German Edition)
ein Regent ausüben kann und die einzige, die ich ausüben muss.
Und was die Frage der Magie betrifft … Ich selbst kann noch nicht einmal einen Wind erzeugen, der stärker ist als mein Atemhauch. Mein Gemahl hingegen besitzt magische Kräfte. Falls Ihr denkt, ich würde nur herrschen, weil ich eine Frau bin – mein Vorgänger war ein Mann, und der nächste Herrscher kann sowohl eine Frau als auch ein Mann sein, je nachdem, wer dann der geeigneteste Thronanwärter ist. Wir machen hier auf Nightfall keinen Unterschied zwischen den Geschlechtern, sondern orientieren uns an den Gaben, mit denen die Götter jeden Einzelnen von uns gesegnet haben.«
»Wir respektieren einander«, ergänzte Saber, dabei zog er die Hand seiner Frau kurz an die Lippen. »So umgeht man blutige Kämpfe... indem man Unterschiede respektiert, Gemeinsamkeiten respektiert – und Grenzen respektiert.«
Lord Aragol setzte ein verbindliches Lächeln auf. »Ich denke, wenn wir unsere gegenseitigen Sitten und Gebräuche etwas besser kennengelernt haben, werden auch wir einander … respektieren. Aber vielleicht seid Ihr jetzt so freundlich, uns unsere Kammern zeigen zu lassen? Wir möchten uns nach dem langen Marsch ein wenig frisch machen.«
Auch Saber lächelte, allerdings weit weniger verbindlich als sein Gegenüber. »Wir bedauern, dass es nicht zu unseren Gewohnheiten gehört, unerwarteten Besuchern ein Quartier anzubieten. Aber wir werden Eure Habseligkeiten und Eure Begleiter nach Whitetide Bay zurückbringen. Hofsekretär?«
»Ja, Eure Hoheit?« Koranen trat vor.
»Sorg dafür, dass diese Männer zum Hafen zurückgefahren werden«, wies Saber seinen jüngeren Bruder an. »Und gebt ihnen einen Krug Stout mit, sie werden nach dem langen Weg durstig sein.«
»Ja, Eure Hoheit.« Koranen eilte davon, um den Krug selbst zu holen, da keine Illusion, und sei sie auch noch so lebensecht, imstande war, einen so schweren Gegenstand anzuheben oder die pferdelose Kutsche zu steuern.
»Ihr stellt uns keine Unterkunft zur Verfügung?«, empörte sich der ältere Sohn Kennal. »Obwohl mein Vater der Abgesandte eines Königs ist?«
»Wir würden selbst den König und die Königin von Katan, unsere besten und nächsten Nachbarn, hier nicht beherbergen, wenn sie unaufgefordert vorstellig würden«, versetzte Kelly. »Ihr wisst noch sehr wenig über uns. Nur diejenigen, die mit unseren Gepflogenheiten wirklich vertraut sind, werden zum Bleiben aufgefordert.«
»Der Herr der Nacht sieht es nicht gern, wenn Fremde nächtens auf der Suche nach einem Abtritt in der Burg umherwandern«, fügte Saber hinzu, als der junge Mann Anstalten machte, Einwände zu erheben. »Diese Insel trägt den Namen Nightfall nicht ohne Grund. Aber seid unbesorgt, wenn die Nacht hereinbricht, seid Ihr längst wieder auf Eurem Schiff und in Sicherheit.«
»Der ›Herr der Nacht‹?« Lord Aragol hob eine Braue.
Kelly verkniff sich ein Lächeln. Sie brannte schon darauf, die Geschichte vorzutragen, die Rydan mit seinem eigenartigen Sinn für Humor beim Abendessen erfunden hatte, um die Fremden davon abzuhalten, sich nachts der Burg zu nähern. Im Dunkeln bestand für etwaige Feinde die größte Aussicht darauf, einen Hinterhalt oder Angriff erfolgreich durchzuführen, zumal die meisten Brüder von ihrem Tagewerk erschöpft und somit weniger wachsam waren. Kelly hatte dieser Geschichte noch um eine ganz
spezielle Note bereichert und den seltsamsten Bewohner dieser Insel damit so erheitert, dass er zum zweiten Mal innerhalb weniger Tage ein Lächeln gezeigt hatte. Kelly war danach zu Morganen zurückgegangen und hatte ihn gebeten, noch ein paar Gegenstände aus ihrer Welt zu holen, vornehmlich Bücher, in denen in Sagen und Legenden das beschrieben wurde, was sie Rydan erzählt hatte. Das Lesen dieser Bücher würde ihm zweifellos viel Vergnügen bereiten.
Ihr Lügengespinst würde mit Sicherheit bewirken, dass ihre unwillkommenen Besucher sich nachts von Insel und Burg fernhielten. Keine ihrer Illusionen konnte so lange aufrechterhalten werden, wie alle echten Einwohner Nightfalls wussten. Mit todernstem Gesicht begann Kelly, die Fremden über den »Herrn der Nacht« aufzuklären.
»Der Herr der Nacht herrscht in den Stunden zwischen Abenddämmerung und Tagesanbruch. Noch nicht einmal ich als Königin mache ihm diese Herrschaft streitig, obwohl ich als Einheimische von ihm natürlich nichts zu befürchten habe. Er war schon hier, bevor das Königreich Nightfall gegründet
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