Die Söhne der Insel: Roman (German Edition)
Gebäudekomplexes weniger beeindruckend, als sie es tatsächlich waren. Zwischen den Hauptflügeln der Burg und der Mauer lagen vernachlässigte Gärten, und die Flügel selbst wiesen eine eigenartige Form auf – wie schematisierte Schneeflocken mit vier oder acht Zweigen, fand sie.
Von dem achteckigen Hauptturm, in dessen Spitze sich ihre Kammer befand, gingen vier jeweils vierstöckige Flügel ab, wenn man die hohen Mansarden mit den mit hölzernen Läden versehenen Glasfenstern hinzuzählte. Diese vier Flügel erstreckten sich in alle vier Himmelsrichtungen und beherbergten eine Unmenge an Räumen, die es zu erkunden galt. Die hohen Decken eines jeden Stockwerks
waren so konzipiert, dass der Kerzenrauch abziehen konnte und den Bewohnern nicht in den Augen brannte und dass es auch im Sommer angenehm kühl blieb, obgleich Kelly beim besten Willen nicht sagen konnte, was für eine Jahreszeit in dieser Welt gerade herrschte. Fest stand nur, dass das Wetter sommerlich warm zu sein schien.
Nach ungefähr neunzig Metern gabelte sich jeder Flügel in Form eines Y auf. Von dort an trugen säulenähnliche schlanke Türme aus Stein gemeißelte Brücken, die sich bis zu den Mauern der Brustwehr erstreckten. Ferner gab es einige hölzerne Zugbrücken, die im Fall eines Angriffs rasch hochgezogen werden konnten. Die Dächer der Burgflügel liefen spitz zu und waren mit dunklen, graublau glasierten Tonschindeln gedeckt, die sie an die der Häuser in der südwestlichen Wüste ihrer eigenen Welt erinnerten. Entlang der Dachlinien verliefen breite Fußwege, an deren Ecken sich weitere Türme erhoben, die wie Treppenhäuser aussahen.
Ein genauerer Blick aus dem Fenster bestätigte ihr, dass dies auch bei dem Dach, auf das sie hinausschaute, der Fall war. Kelly stieß Fenster und Läden auf, raffte ihren Rock, vergewisserte sich, dass ihr die Schuhe nicht von den Füßen rutschen konnten, kletterte auf den Sims und begann sich dann zu dem Fußweg hinunterzuhangeln. Höhenangst kannte sie zum Glück nicht. Sie sprang auf den Steinboden, fing die Wucht des Aufpralls mit federnden Knien ab, richtete sich auf, schüttelte ihren Rock aus und blickte sich um.
Nach kurzem Zögern wandte sie sich nach rechts. Der Fußweg war wie all die anderen auch so breit, dass drei Menschen bequem nebeneinander hergehen konnten. Zu ihrer Linken wechselten niedrige und etwas höhere Zinnen einander ab. In jede, die ihr bis zum Scheitel reichte, war eine Schießscharte eingelassen. Obgleich sicherlich nicht viele Leute bis hier hochstiegen, um einen Spaziergang
in luftiger Höhe zu machen, waren die Steine mit eingemeißelten, verwitterten, grotesk verlängerten Sternen verziert.
Sterne mit acht Ecken, wer hätte das gedacht , registrierte Kelly mit einem Anflug von trockener Belustigung. Die Leutchen hier haben es wirklich mit der Zahl Acht! Sie gelangte zu einem der vier Türme, die ihrer Meinung nach ein Treppenhaus beherbergten, betätigte die hebelförmige Klinke und stellte fest, dass sich die Tür mühelos öffnen ließ. Den Rocksaum mit einer Hand hochhaltend, um nicht darüber zu stolpern – sie konnte es gar nicht erwarten, sich endlich ein paar bequeme Hosen zu schneidern – stieg sie die ausgetretenen Stufen hinab.
Stimmengewirr lockte sie auf den ersten Treppenabsatz hinaus, in eine kleine Halle und dann einen kunstvoll verzierten Bogengang entlang, der auf einen breiten Balkon hinausführte, von dem aus man scheinbar die große Halle überblicken konnte. Kelly lehnte sich über das geschnitzte Geländer. Im Sonnenlicht, das durch die südöstlichen Fenster flutete, konnte sie klar und deutlich einen in der Mitte des Raumes unter ihr aufgestellten achteckigen Tisch sehen, an dem sechs der acht Nightfall-Brüder saßen.
Und sich ihr Frühstück schmecken ließen.
Oder vielmehr die Reste ihres Frühstücks. Trotzdem hatte keiner es für nötig befunden, ihr etwas hinaufzubringen. Heiße Wut würgte sie in der Kehle. Sie eilte die Wendeltreppe bis zum untersten Stock hinunter und marschierte geradewegs in die große Halle. Auf die kunstvollen Muster, die die polierten Steinfliesen unter ihren Füßen bildeten, die prachtvollen Buntglasfenster und die reich verzierten Säulen, Balustraden und Bogengänge achtete sie überhaupt nicht. Sie war zu aufgebracht, um ein Auge für die architektonische Schönheit des Raums zu haben.
Sie stapfte die letzten vier Stufen hinunter und steuerte direkt auf die Männer zu, die angesichts des sich
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