Die Söhne der Insel: Roman (German Edition)
während der letzten Abendmahlzeiten ein paar Worte aus ihm herausbekommen, aber die meiste Zeit hatte er ihr keinerlei Beachtung geschenkt. Auch das entsprach seiner Art.
Mit seinen anderen Brüdern verhielt es sich allerdings anders. Während der letzten Wochen hatte Saber vom Balkon
aus – ein Verbannter in der Verbannung – zugesehen und zugehört, wie die anderen mit ihr herumgealbert, ihr von ihrem Tagewerk berichtet und sie, so gut es ihnen möglich war, über ihre magischen Kräfte aufgeklärt hatten, obgleich sie, da sie aus einer Welt kam, die keine Magie kannte, Mühe hatte, einige Begriffe zu verstehen. Es fiel ihr außerdem schwer, einige ihrer Geschichten zu glauben. Im Gegenzug hatten die Brüder sie ermutigt, ihnen von ihrer Welt zu erzählen, indem sie sie mit Fragen überschütteten.
Rydan war in der Beziehung ebenso ein Außenseiter gewesen wie Saber; er hatte ihr kaum einmal eine Frage gestellt und kaum eine beantwortet. Aber Rydan hatte sich schon immer willentlich von den anderen abgekapselt. Saber dagegen wusste nicht, wie er sich aus seiner Isolation befreien sollte. Er fühlte sich in seiner momentanen Situation alles andere als glücklich, fand jedoch keinen Ausweg daraus.
»Vielleicht solltest du auch dazu übergehen, das Tageslicht zu meiden.«
Saber wurde jäh aus seinen Gedanken gerissen. »Wie bitte?«
Rydan drehte sich um und sah ihn mit seinen tiefdunklen Augen an, dann richtete er den Blick wieder auf einen Punkt irgendwo hinter dem Fenster. »Ich sagte, du solltest überlegen, ob du in Zukunft nicht auch lieber das Tageslicht meidest. Du scheinst ja mit den anderen nicht mehr viel zu tun haben zu wollen.«
»Ich …« Saber wusste nicht, was er darauf erwidern sollte. Dies war die längste persönliche Rede, die er seit einem halben Jahr aus Rydans Mund gehört hatte. Doch ihm standen noch weitere Überraschungen bevor, denn Rydan war noch nicht fertig.
»Allerdings scheint mir, dass es diese Frau ist, der du aus dem Weg gehen willst. Aber das kannst du nicht, musst
du wissen, denn sie ist dein Schicksal. Meines ist es, in der Nacht zu herrschen, bis eine Frau bei Tagesanbruch meinen Untergang herbeiführt. Deswegen halte ich mich vom Tageslicht und vor allem von der ersten Morgenröte fern. Aber ich muss mich nicht von ihr fernhalten.« Wieder musterte er seinen Bruder nachdenklich. »Sie ist nicht mein Schicksal. Wofür ich beiden Monden danke.
Also muss sie mit dem Schicksal eines der anderen von uns verbunden sein.« Er schwieg einen Moment, dann zuckte er leicht die Achseln und fuhr fort: »Nicht mit dem von Wolfer. Sein ganz persönliches Schicksal hat schon begonnen, bevor wir hierher verbannt wurden.«
Da Rydan im Gegensatz zu dem immer fröhlichen, gesprächigen Evanor oder dem gelegentlich ungewohnt verschwiegenen Morganen selten einem seiner Brüder Einblick in seine Gedanken gewährte, wusste Saber nicht, was er von dieser unverblümt geäußerten Ansicht halten sollte. Das Schicksal seines eigenen Zwillings hatte sich bereits zu erfüllen begonnen? Saber konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, um wen es sich bei der betreffenden Frau handeln könnte. »Bist du sicher?«
»Augen, die im Dunkel zu sehen vermögen, sehen manchmal klarer als alle anderen und durchdringen auch die Schatten der Geheimnisse.« Die besagten Augen starrten unverwandt in die Nacht hinaus, während Saber seinen Bruder nachdenklich betrachtete.
Das klang schon eher nach dem Rydan, den er kannte. Doch der ansonsten so wortkarge Rydan hatte erstaunlicherweise noch mehr zu sagen.
»Morganen ist der Letzte von uns, der eine Braut freien wird, und da sich bislang keine andere Frau hier eingefunden hat, um die Lawinen unserer Schicksale ins Rollen zu bringen, ist Kelly eindeutig nicht für ihn bestimmt. Sie hat nichts mit Wasser zu tun, kann also Koranens Flamme nicht löschen, und sie läuft nicht davon, sondern tritt allem
und jedem beherzt entgegen, daher ist sie nicht wegen Trevan hier.
Sie hat eine angenehme Singstimme und kennt zweifellos viele unbekannte und ungewöhnliche Melodien aus ihrer Welt, aber sie ist nicht Evanors Schicksal. Sie mag vielleicht ihr Herz an einen von uns verloren haben, aber sogar ich sehe, dass er nicht der Betreffende ist. Und sie handelt zu geradeheraus, als dass sie den Meister der Manipulation lenken könnte, ohne dass er es bemerkt … obwohl ich gar zu gern gesehen hätte, wie sie Dominor ›Staub schlucken‹ ließ. Die anderen ziehen
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