Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Die Söhne der Wölfin

Titel: Die Söhne der Wölfin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tanja Kinkel
Vom Netzwerk:
verstecken, daß er es auch war, denn sie hatte es ihm vererbt.
    Er hörte sein Herz pochen, wollte wegrennen und rührte sich doch nicht vom Fleck, als sie ihm langsam eine ihrer Hände entgegenhielt. Erst jetzt fiel ihm auf, daß ihre langgliedrigen Finger die seinen waren, so ganz anders als die breite, kurze Hand des Vaters.
    »Ja«, wisperte er, weil seine Kehle zu trocken war, um laut zu sprechen, und ergriff ihre Hand. »Bring es mir bei.«
    Er legte seine Hand in die ihre und schwor sich gleichzeitig, sie eines Tages auch so zu erleben. Entsetzt und kaum in der Lage, ein Wort herauszubringen, während er ihr zeigte, daß sie niemand war. Wenn er alles von ihr gelernt hatte, was man brauchte, um wirklich zu hassen.

    Für Faustulus ähnelte das Glück einem langen, warmen Frühlingsabend, der Stunde kurz vor Sonnenuntergang, die einen Hauch von Blau über alles legte, während er nach vollbrachtem Tageswerk auf der Bank vor seinem Haus saß, seine Söhne zu seinen Füßen und sein Weib an seiner Seite. Glück war, zu erleben, wie sie eine echte Familie wurden, wie selbst der widerspenstige Romulus nun auch Larentias Gegenwart suchte, und ihr wieder zuzusehen, wie sie ihre Zeichen in den Staub malte, damit die Kinder sie nachzeichnen konnten. Glück war, einige der Eier, die sie nicht brauchten, über Pompilius gegen Wein einzutauschen und ein Festmahl zu geben, an dem seine Freunde teilnahmen und bei dem sie ihr Mißtrauen gegenüber Larentia wohl hoffentlich zu Grabe trugen.
    Auch das Unglück besaß Farbe und Gestalt für ihn. Unglück war wie schwarzdunkle Gewitterwolken und gleißend helle, schneidende Blitze. Unglück war sein eigenes Mißtrauen, das er nicht mehr überwinden konnte, wenn Larentia wie vor fast einem Jahrzehnt in den Regen hinauslief und die Kinder sie mit weitaufgerissenen Augen dabei beobachteten, wie sie die Arme zum Himmel streckte und den Kopf zurückwarf, als sauge sie den Ausbruch der Elemente in sich hinein. Unglück war die hagere Gestalt eines fremden Mannes, der wie Larentia mit einem Pferd ins Dorf kam. Es zog keinen Karren hinter sich her, doch es war mit Musikinstrumenten beladen, an die Faustulus sich aus seiner Zeit in Alba dunkel als Harfe und Laute erinnerte. Er wußte sofort, daß dies der Barde sein mußte, von dem sie gesprochen hatte, der Mann, der ihren Tod sehen sollte.
    Wandernde Barden kamen nur sehr, sehr selten ins Flußdorf; der letzte hatte vor fünf Jahren den Weg hierher gefunden, und das war kein Barde der Tusci gewesen, sondern ein Sabiner, so daß es Faustulus nicht wunderte, daß der Fremde sofort von einer Menschentraube umringt wurde.
    »Gute Leute«, hörte er die wohlklingende, warme Stimme des Barden durch das aufgeregte Geschwätz hindurch in der Sprache der Tusci sagen, »gewiß werde ich für euch singen, doch bitte verratet mir, wo finde ich die Familie des Faustulus?« Dann wiederholte er die Frage noch einmal, nicht ganz so überlegen klingend, in der Sprache der Latiner.
    Faustulus hätte an diesem Tag eigentlich auf seinem Weizenfeld beim alten Gehöft sein sollen. Der Frühling war zum Sommer geworden, und die erste Ernte würde bald eingebracht werden. Doch es gab noch Geschäfte mit Pompilius zu erledigen, und so hatte er Remus hingeschickt, um den Weizen zu überprüfen, während Romulus die Schweine hütete. Nun war er diesem Zufall dankbar. Larentia wäre sonst allein hier gewesen.
    Er wartete nicht darauf, daß die anderen den Barden an ihn verwiesen, sondern hastete zurück zu seinem Heim. Larentia kam gerade vom Melken der Kühe aus dem Stall zurück, als er und der Fremde das Haus, das trotz des Wohlstands, dessen sich Faustulus inzwischen erfreute, immer noch eine Hütte mit einem einzigen Raum war, unmittelbar hintereinander betraten. So kam er in den zweifelhaften Genuß, Larentia in ein strahlenderes Lächeln ausbrechen zu sehen, als sie es ihm bei ihrer Rückkehr geschenkt hatte.
    »Ulsna!« rief sie und drängte sich an Faustulus vorbei in die Arme des Fremden, die sich fest um sie schlossen. »Wo bist du so lange geblieben? Ich habe mir Sorgen gemacht.«
    »Wenn ich das gewußt hätte, wäre ich noch viel länger weggeblieben«, erwiderte der Barde und zupfte sie zu Faustulus’ Empörung an einer der Haarlocken, die sich aus ihrem aufgesteckten Knoten gelöst hatten. »Du bist so schwer aus der Ruhe zu bringen, Ilian, daß der Anblick sich immer wieder lohnt.«
    Sie versetzte ihm einen kleinen Hieb auf die Schulter, dann

Weitere Kostenlose Bücher