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Die Söhne der Wölfin

Titel: Die Söhne der Wölfin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tanja Kinkel
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Wissen über Blitze ist nicht immer gut, Larentia«, sagte der Vater gepreßt.
    »Nur, wenn man es mißbraucht«, entgegnete sie ungerührt. »Nur, wenn man es mißbraucht.«

    Als der Mond zwei Nächte später tatsächlich Stück für Stück verschwand, tat Romulus sein Möglichstes, um gleichgültig zu wirken, und spottete über die offen zur Schau getragene Ehrfurcht, mit der Remus und die durch dessen Prahlerei genauso gespannte Dorfgemeinschaft das Ereignis vorfolgten. Aber er nutzte den ersten Moment, in dem er allein im Haus war, um Larentias Bündel nach den merkwürdigen Metallgegenständen zu durchsuchen. Als er sie fand, versteckte er sie in einer Grube unter seinem Lieblingsbaum am Waldrand und schlich sich in der nächsten Nacht fort, um sie selbst zu benutzen. Er versuchte, sie so in den Händen zu halten, wie Larentia es getan hatte, doch weder der Mond noch die Sterne sprachen zu ihm. Dennoch behielt er sie in seinem Versteck und nahm sich vor, alles zu leugnen, falls ihn Larentia beim Vater des Diebstahls bezichtigte. Er wartete und wartete darauf, aber sie sprach nicht darüber, obwohl sie den Verlust längst entdeckt haben mußte.

    Endlich begann Remus vernünftigen Groll gegenüber Larentia zu entwickeln, als sich der Vater weigerte, die Jungen mit Pompilius nach Alba reisen zu lassen. »Ihr geht mir nicht dorthin«, erklärte er kurz angebunden, »vor allem jetzt nicht, wo eure Mutter wieder da ist.«
    »Da hast du es«, meinte Romulus, als sie versuchten, ihre Enttäuschung loszuwerden, indem sie Steine über die ruhige, träge Oberfläche des Flusses springen ließen. »Sie tut vielleicht freundlich, aber sie verdirbt uns nur alles.«
    »Es ist ungerecht«, stimmte Remus zu und sprach an diesem Tag nicht mit Larentia. Romulus versuchte zu erkennen, ob das irgendeinen Eindruck auf sie machte, doch sie ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. Das zeigt, wie wenig wir sie kümmern, dachte Romulus. Es ist ihr gleich, ob wir sie mögen.
    Als er sie allein und über ihre Rollen gebeugt fand, weitere Zeichen kritzelnd, während Remus und der Vater die Tiere versorgten, baute er sich vor ihr auf und sagte anklagend:
    »Es ist deine Schuld, daß wir nicht nach Alba gehen dürfen.«
    »Vermutlich«, stimmte sie zu, ohne aufzusehen. So mißachtet zu werden erinnerte ihn an die Art, wie ihn die anderen Kinder immer außer acht ließen, wenn es galt, einen Anführer bei Wettkämpfen zu wählen, und er konnte sich nicht länger beherrschen.
    »Ich hasse dich!«
    Das brachte sie endlich dazu, den kleinen Stock mit einem dünnen Haarschweif, den sie in der Hand hielt, sinken zu lassen und ihn anzusehen. Ihm wurde gleichzeitig heiß und kalt. Niemand schaute ihn so an wie Larentia; gar nicht wie eine Erwachsene ein Kind oder mit der milden Zuneigung des Vaters, sondern als ziehe sie Schicht für Schicht seiner Haut ab und lege das Innere bloß. Als kenne sie jedes häßliche Geheimnis, das er in sich trug, und all seine Wünsche, besser, größer, stärker und begehrter zu sein, als er es war.
    »Dann mach etwas daraus«, entgegnete sie eindringlich. »Mein Haß hat mich stark werden lassen. Er hat mich dazu gebracht, die Geheimnisse meiner Feinde zu lernen, um sie zu vernichten. Er hat mich Dinge aushalten und Dinge tun lassen, die euch alle hier schreiend in die Wälder treiben würden, wenn ich davon spräche. Und du, du gibst dich damit zufrieden, Grimassen zu schneiden, meine Instrumente zu stehlen und dich bei deinem Bruder über mich zu beklagen? Das ist nichts. Du bist nichts. Willst du etwas sein?«
    In diesem Moment war er fest davon überzeugt, daß all die Gerüchte stimmten, daß sie fremdartig und böse über jedes menschliche Maß hinaus war, und es hätte ihn nicht gewundert, wenn sie sich an Ort und Stelle in einen Dämon verwandelte. Gleichzeitig hallte das, was sie sagte, in seinem Herzen wider wie das Echo in einer Schlucht, und etwas in ihm antwortete ihr. Etwas in ihm erkannte sie zum ersten Mal, seit sie zurückgekehrt war, als ganz und gar nicht fremd, sondern als verwandt, und es war ein entsetzliches und berauschendes Gefühl zugleich. In seinem Innersten hatte er immer gewußt, daß er kein guter Junge war, nicht bei all den häßlichen Gedanken, die er über andere Kinder, die Dorfbewohner wie Pompilia, die über ihn spotteten, und manchmal selbst über Remus und den Vater hegte. Jetzt verstand er endlich den Grund. Sie war es. Sie war böse, und ihr gegenüber brauchte er nicht zu

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