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Die Söhne der Wölfin

Titel: Die Söhne der Wölfin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tanja Kinkel
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ihrer Sprache reden sollte. Es verging kein Tag, ohne daß sie etwas Ähnliches tat. Irgendwie machte es Spaß, Worte zu sprechen, die sonst kaum einer verstand, aber sein Hauptmotiv dafür, dieses Spiel mitzumachen, war das, seinem Vater eines Tages beweisen zu können, daß er der Beste war, um mit den Tusci zu verhandeln.
    Sie antwortete langsam, was ihm das Verstehen erleichterte; obwohl immer wieder einzelne Wörter auftauchten, die ihm neu waren, verstand er den Sinn dessen, was sie sagte.
    »Es war eine Frau, die mächtiger war als die meisten ihres Landes. Ich habe einen Fluch über sie verhängt, und sie fand die Zeichen dafür überall. Sie wurde krank davon. Sehr krank. Dann mußte sie hören, daß überall, wo ihre Namenskartusche - ihr Name in Bildern - geschrieben stand, ein Zeichen nach dem anderen ausgelöscht wurde. Und als sie im Sterben lag, erzählte ich ihr, daß ich ihren Namen für immer auslöschen würde.«
    Sie machte eine kleine Pause und schaute ihn über den Rand ihres Wasserkrugs hinweg an. Ein feines Lächeln spielte um ihre Lippen, doch ihre Augen waren hart und kalt wie die Steine tief unter der Wasseroberfläche, die von den Sonnenstrahlen nicht mehr erreicht wurden.
    »Sie starb schreiend.«
    Romulus hatte sich nie viele Gedanken über den Tod gemacht. Als Remus und er sich gefragt hatten, ob ihre Mutter tot sei, hatten sie sich Larentia in der Unterwelt vorgestellt, von der die älteren Kinder gelegentlich sprachen, einem unheimlichen Ort, gewiß, aber doch ein Ort wie die Welt hier. Der Gedanke, jemandem das Fortleben verweigern und ihn zu einem völligen Nichts verdammen zu können, war zutiefst furchteinflößend. In den Geschichten töteten Helden ihre Feinde, aber sie löschten sie nicht aus der Obhut der Götter aus. Ein Frösteln überlief ihn. Allmählich begriff er, was sie damit meinte, wenn sie von der Kraft ihres Hasses sprach.
    Um alles in der Welt wollte er sich nicht anmerken lassen, daß es ihr gelang, ihm Angst einzuflößen, also straffte er seine Schultern und fragte:
    »Kann ich dich auch schreiend sterben lassen?«
    »Nicht auf diese Weise. Man hat mir bereits einmal meinen Namen genommen, und ich habe es überlebt. Es ist an mir, zu wissen, wie du es könntest«, entgegnete sie, »und an dir, es herauszufinden.«

    Alba, die Weiße, das von Unbill geschüttelte und wieder zu neuem Glanz erblühte Alba, lag wie eine Perle in der Auster eingebettet an der windgeschütztesten Stelle des hohen Hügels, von der aus man weit über den See hinweg bis ins Umland blicken konnte. Für Ulsna wäre die Stadt früher, als er noch mit seinem Meister durch die Lande gezogen war, überwältigend gewesen. Inzwischen hatte er mit Ilian in dem Tempel Amon-Res zu Karnak gestanden, wo ein Mensch kaum den Fuß einer Säule überragte, wo es unfaßlich schien, daß andere Menschen und nicht Götter die Pfeiler, die in die Ewigkeit ragten, errichtet hatten. Der Tempel Turans, der Schutzgöttin von Alba, hätte in eine seiner Vorhallen gepaßt; der Palast, der etwas tiefer lag und sich etwas breiter über drei Gebäude hin erstreckte, kam höchstens dem Anbau gleich, den der nubische Pharao Taharqa hatte errichten lassen. Dennoch verbrachte Ulsna lange Zeit vor den Gebäuden. Er wußte, welche Rolle sie in Ilians Leben spielten.
    Seltsam, dachte er. Sie durchquert Meere und Länder, sieht Zeichen und Wunder und ist bereit, selbst mit den Göttern zu handeln - und das alles, um eines Tages hierher zurückkehren zu können. In diese Stadt, aus der man sie vertrieben hat, in den Tempel und in den Palast.
    Er selbst hielt sich von beiden fern und verzichtete auch wohlweislich auf jedes Lied über eine verbannte Königstochter und ihren halbgöttlichen Sohn, als er seine Kunst in Schenken und in den Häusern der Edlen darbot. Dafür hörte er genau zu. Es war dies keineswegs ein Opfer; er genoß es, nach all den Jahren in der Fremde in einen Klangteppich eingehüllt zu werden, der nur aus Lauten seiner eigenen Sprache gesponnen war. Je mehr er reiste, desto mehr kam er zu der Überzeugung, daß jedes Volk seine eigene Gestalt hatte, die man selbst als Blinder hören, riechen und schmecken konnte. Für die Griechen waren es die kurzen, knappen Sätze, mit denen gehandelt wurde, hell und klar wie das Klappern von Hufen auf Felsgestein, und die langen, gerollten Verse ihrer Lieder, mit denen sich für ihn das Rauschen von Meereswogen und das Salz der See verbanden. Bei den Ägyptern war es

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