Die Söhne der Wölfin
Er mußte ein Novize des Apollon-Tempels sein. Wieder von Ilian zu hören hinterließ den gewohnten freudigen Stachel. Es war immer wieder erstaunlich, festzustellen, was das nasse Bündel Elend, das ihr Arion einst ins Haus geschleppt hatte, aus sich machte. Erst verschwand sie für ein paar Jahre, nach Ägypten, wie sich später herausstellte, dann tauchte sie in unregelmäßigen Abständen wieder in Korinth auf, diesmal als geehrter Gast des Gottes Apollon, machte Arion und seine Freunde mit Aufträgen eines ägyptischen Fürsten glücklich und besuchte Prokne, als seien sie - ja was? Freundinnen?
Natürlich freute es sie, daß die Kleine etwas aus sich gemacht hatte. Es war von Anfang an zu erkennen gewesen, daß Ilian den nötigen Geist und Willen besaß, und nachdem sie sich erst einmal von ihrer Krankheit erholt hatte, auch den dazugehörigen Körper, stand es doch nun einmal für sie fest, daß es für eine häßliche oder unscheinbare Frau in dieser Welt nur einen Platz als Dienerin gab. Nur störte es Prokne, daß sie das, was aus Ilian geworden war, nicht einordnen konnte. Ilian bewegte sich zwischen so unterschiedlichen Welten wie den Tempeln, dem Handel und dem Hof dieses ägyptischen Fürsten hin und her. Früher war Prokne das Dasein einer Hetäre als das Beste erschienen, was einer Frau möglich war. Eine Hetäre war nicht eingesperrt wie eine Ehefrau oder Fleischware wie eine Hure. Mehr Freiheit als eine Hetäre konnte eine Frau gar nicht besitzen. So hatte Prokne gedacht, bis die verschwundene Ilian wieder und wieder nach Korinth hinein- und herausflatterte wie ein Zugvogel und bei aller Zurückhaltung von Dingen erzählte, die sie, Prokne, nie sehen würde. Nicht, daß sie sich ihr Leben anders wünschte. Sie war zufrieden mit ihrem Dasein. Außer, wenn Ilian sie besuchte.
Andererseits brachte Prokne es auch nie fertig, einen Besuch abzulehnen. Sie verglich es mit den gezuckerten Feigen, die sie sich alle paar Monate einmal gestattete. In solchen Maßen genossen, schadeten sie nicht, aber sie wußte, daß es eine unnütze Gewohnheit war, die nur die Sehnsucht nach mehr hinterließ; trotzdem war sie nicht bereit, diese Gewohnheit fallenzulassen.
Also ließ sie durch den Boten ausrichten, Ilian möge sie am nächsten Nachmittag besuchen, da sie am heutigen Abend Gäste empfing. Erst später fiel ihr wieder ein, daß der Novize von Begleitern in der Mehrzahl gesprochen hatte, und sie ärgerte sich, nicht danach gefragt zu haben. Also würde Ilian nicht nur ihren hageren Barden mitbringen. Wen gab es sonst noch? Arion befand sich zur Zeit noch auf See, soweit sie wußte, und sie war bereit, zu wetten, daß niemand von der Priesterschaft des Apollon ihr Haus betreten würde; es grenzte schon an ein Wunder, daß es dem Novizen erlaubt worden war. Mutmaßlich hatte Ilian gar nicht erst gefragt, als sie ihn schickte.
Am nächsten Tag bereitete sie sich vor wie sonst nur auf den Besuch eines ganz besonderen Gönners. Sie wußte, wie Ilian nach einer Seereise aussah, und konnte nicht widerstehen, ihren eigenen Glanz dagegenzusetzen. Ihre Dienerin brauchte mehr als zwei Stunden, bis sie Proknes Haar zu der komplizierten Pracht, durchflochten mit Golddraht und purpurroten Bändern, aufgetürmt hatte, die Prokne vorschwebte. Sie befestigte die kleinen, mit Duftwässern gefüllten Wachsfläschchen an Handgelenken und Ohren, wo sie wie Schmuck aussahen, eine Sitte, die sie selbst in dieser Stadt eingeführt hatte. Ihr Gewand bestand aus der Art von zarten Schleiern, die man kaum wieder glätten konnte, weswegen sie es selten trug, und schon gar nicht an Abenden, an denen sie Gästen mehr als ihren geistvollen Witz bieten wollte.
Als Ilian mit dem Jungen an ihrer Seite in Proknes Blickfeld kam, gab es ihr einen Stich. Nicht, daß sie sich in bezug auf Ilian getäuscht hätte - Ilian war wie üblich nach einer Reise von der Sonne und der Seeluft braungebrannt wie eine Bäuerin, obwohl sie diesmal immerhin ihr Haar vor dem Verfilzen gerettet hatte, und der Chiton, den sie trug, stand ihr zwar, war jedoch nicht durch die kleinste Stickerei verziert. Nein, es lag an dem Kind. Es mußte Ilians Sohn sein, den Prokne zuerst für tot gehalten hatte, damals, als sie Ilian mit den Hautmalen einer noch nicht allzulang zurückliegenden Geburt gesehen hatte. Das konnte doch unmöglich schon so lange zurückliegen, um Ilian das Recht auf diesen großen Jungen zu geben, und dabei sah sie selbst noch immer wie ein Mädchen
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