Die Söhne der Wölfin
zögerte. »Remus«, fuhr sie fort, »wir haben nie über das gesprochen, was an dem Tag gesagt wurde, als... als wir aus dem Dorf fortgingen.«
Als du mich dort weggenommen hast, meinst du wohl, dachte Remus , als du uns allen das Herz herausgeschnitten hast . Doch er sprach es nicht aus. Er wollte nicht an diesen Tag denken. Jedesmal, wenn er das tat, wallten in ihm Trauer, Bitterkeit und Haß auf, und mit diesen Gefühlen konnte er auf Dauer nicht leben. Er wollte seine Mutter nicht hassen, nicht, wenn ihm sonst nichts mehr zu lieben geblieben war. Außerdem war Haß nicht gut. Er machte einen krank. Daß er nicht mehr ständig an Romulus und den Vater dachte und ihm der Aufenthalt in der Fremde Spaß machte, löste zwar Schuldgefühle in ihm aus, wenn er sich dessen bewußt wurde, doch es war einfacher, als ständig wie zu Beginn die auswegslose Last des Hasses auf den Schultern zu tragen. Es war besser, sich an die Hoffnung zu klammern, am Ende würde alles gut werden. An jenem Tag hatte sie dem Vater auch angeboten, mit ihr zu kommen. Vielleicht würde der Vater es sich eines Tages noch überlegen, und dann wären sie wieder alle zusammen.
»Ich bin nicht nur eine Priesterin«, sagte seine Mutter. »Ich bin die Tochter eines Königs, erinnerst du dich?« Er nickte stumm. »Eines Königs«, setzte sie hinzu, »der von seinem Bruder entthront wurde. Aber hier habe ich Verbündete gefunden, Remus, und am Ende wird es mein Onkel sein, der entthront wird, mit ihrer Hilfe. Nur fordern sie ihren Preis.«
Mit einem Schlag sah er sie in einem neuen und doch alten Licht. Sie war wieder die Figur aus den Märchen, die Romulus und er um sie gesponnen hatten, als sie noch nicht mehr von ihr wußten, als das, was die Dorfbewohner erzählten, und daß sie fort war.
»Deswegen hast du uns beim ersten Mal verlassen«, sagte er aufgeregt. »Um Verbündete zu suchen, damit der böse König gestürzt wird und dein Vater wieder zu seinem Recht kommt.«
Seine Mutter war keine böse Zauberin, sie war eine einsame Streiterin, die in einer Welt von Feinden gefährliche Abenteuer bestehen mußte, um dem Recht zu seinem Sieg zu verhelfen. So betrachtet, war es nicht richtig von dem Vater, sich zu weigern, sie zu begleiten. Er könnte eigentlich jetzt hier sein und ihr helfen.
»Mein Vater ist schon alt«, entgegnete sie mit einer undurchdringlichen Miene. »Es mag sein, daß er stirbt, ehe ich Erfolg habe. Ist dir klar, wer dann der rechtmäßige Thronerbe ist?«
»Wir sind es«, sagte Remus begeistert. »Romulus und ich.«
Seine Mutter schloß kurz die Augen. Als sie ihn wieder anschaute, las er in ihrem dunklen Blick nichts als Stolz und Wärme.
»Wer sonst?« fragte sie.
Sais, das reiche, mächtige Sais, Perle des Deltas, glich einem
Ameisenhaufen, dem ein mutwilliges Kind einen Tritt versetzt hatte, fand Ulsna. Anders als früher konnte man nunmehr auch hier die Wunden sehen, die der jahrelange Krieg in Ägypten hinterlassen hatte. Aber das Gewirr von Menschen hatte sich vergrößert, nicht verringert. Es wunderte ihn kaum. Nach dem, was die Assyrer bei ihrer letzten Strafexpedition getan hatten, mußte Sais den Bewohnern als der einzige sichere Hort in Ägypten erscheinen. Auf Schritt und Tritt stieß man auf Zelte oder hastig gebaute Hütten aus Schilfrohr.
Der Haushofmeister im Palast erklärte ihnen, Psammetich habe für den Fall ihrer Rückkehr keine besonderen Anordnungen hinterlassen, es stünden der Herrin Ilian allerdings selbstverständlich ihre alten Gemächer zur Verfügung. Er schaute sie nicht an, während er sprach. Seit dem Tod der Herrin Nesmut hegte er eine sehr offensichtliche Furcht vor ihr.
Psammetichs Gemahlin und sein Sohn befanden sich noch in Niniveh, so hörten sie, wohin er sie nach dem Tod Nechos in der Schlacht und seinem eigenen knappen Entkommen geschickt hatte. Es war seltsam, sich ohne ein Mitglied der fürstlichen Familie im Palast aufzuhalten. Nicht, daß sie lange hier bleiben würden. Der Kapitän des Schiffes, das sie aus Korinth hierhergebracht hatte, war von Arion beauftragt, sie nach dem Löschen der Ladung den Nil hinauf bis nach Theben zu bringen. Dennoch zog Ulsna ernsthaft in Erwägung, die Nacht über lieber an Bord zu bleiben; der Palast von Sais atmete für ihn Erinnerungen, die ihm in der Regel die Kehle zuschnürten.
Doch wenn Ilian es fertigbrachte, ohne absolute Notwendigkeit dort zu schlafen, dann würde es ihm auch möglich sein, und er wollte sie nicht allein
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