Die Söhne der Wölfin
Hand ignorierend, hielt er ihr das Melonenstück vor den Mund. Natürlich hätte sie es jederzeit mit der anderen Hand ergreifen oder darauf verzichten können, doch Arion war sich ziemlich sicher, in welcher Stimmung sich Ilian heute abend befand. Er war ein Spieler, und es zeigte sich, daß er seinen Einsatz richtig bewertet hatte. Sie biß etwas von der Melone ab, und er spürte ihre Zunge kurz an seinen Fingern, ehe sie sich wieder zurückzog. Ohne sie aus den Augen zu lassen, verzehrte er das restliche Stück.
»Verrate mir doch, Ilian, was willst du eigentlich noch bei den Rasna?«
»Gerechtigkeit«, antwortete sie, und ihre Augen verdunkelten sich.
»Gerechtigkeit macht nicht satt, und sie wärmt nicht in der Nacht. Wie mir scheint, hast du ein gutes Leben hier. Bist du wirklich sicher, daß alles, was dich in deiner Heimat erwartet, sich damit messen kann? Soweit ich mich erinnere, hattest du es jedesmal sehr eilig, von dort wegzukommen.«
»Ich habe ein gutes Leben hier«, sagte Ilian nüchtern, »weil ich mich für eine ganze Reihe von Leuten nützlich mache. Die wichtigsten davon sind die Priester des Apollon, und sie versprechen sich noch mehr Nutzen für die Zukunft in meiner Heimat. Wenn ich für immer hierbleiben würde, dann könnte es durchaus sein, daß sie mich eines Tages fallenlassen.«
Er nahm einen zweiten Melonenwürfel.
»Iß noch etwas«, entgegnete er leise. »Nützlichkeit allein macht auch nicht satt.«
»Nein«, gab sie gedehnt zurück, »das tut sie nicht.« Doch diesmal holte sie selbst einen Melonenwürfel aus der Schale, die er in seiner anderen Hand hielt, biß hinein und hielt ihm das angebissene Stück hin. Er war versucht, sie wieder ein gerissenes Luder zu nennen, aber er unterließ es. Statt dessen nahm er das kühle Fleisch der Melone in den Mund und schmeckte ihren süßen Saft an Ilians Fingern.
»Hätte ich dich damals nicht nach Korinth mitgenommen«, begann er, »sondern dich auf dem Sklavenmarkt von Syrakus verkauft, hättest du mich an Ort und Stelle verflucht? Weißt du, manchmal überlege ich mir, ob es die Sache wert gewesen wäre, um dich einmal fassungslos zu erleben. Wir kennen uns nun schon so lange, Ilian, aber du hast nicht einmal die Beherrschung verloren. Was für ein Jammer. Ich glaube, es würde dir stehen.«
»Das glaube ich nicht«, sagte sie, und ihre Stimme hatte alles Neckende verloren. »Es ist mir ein paarmal geschehen, und die Menschen, die dabei waren, haben es ganz bestimmt nicht genossen.«
Arion legte das noch unangetastete Stück Melone in die Schale zurück und stellte sie mit einer raschen Bewegung auf den Boden.
»Vielleicht waren es einfach die falschen Menschen. Es gibt Leute, die sehen das Meer nur in zwei Zuständen: glatt und ruhig oder im Sturm, zu so hohen Wellen aufgewühlt, daß sie einen verschlingen. Aber dazwischen gibt es so unendlich viel, Ilian. Es gibt Tage, an denen ein leichter Wind geht, gerade genug, um Wellen zu verursachen. Man überläßt sich ihnen. Man läßt sich treiben.«
Es dauerte zwei Tage, bis sich Remus mit unglücklicher Miene und einem Weinschlauch, den er als Versöhnungsgeschenk mitgebracht hatte, bei Ulsna einfand. Da es ihm nicht gegeben war, sich zu verstellen, fragte er geradeheraus:
»Ulsna, sind wirklich Gerüchte über meine Mutter im Umlauf? Ich meine, schlechte Gerüchte?«
Ulsna öffnete den Schlauch, roch an dem Wein und klatschte in die Hände, um sich Becher und Wasser zum Mischen bringen zu lassen. Nachdem die Sklavin wieder verschwunden war, entgegnete er:
»Über jeden Menschen, der aus der Menge herausragt, sind Gerüchte im Umlauf. Deine Mutter ist keine gewöhnliche Frau.«
»Ich weiß«, sagte Remus und begann unruhigen Schrittes auf und ab zu gehen. »Sie ist eine Heldin. Aber es sind doch alles Lügen, nicht wahr? Ich meine, sie hat doch nie mit einem anderen das Bett geteilt als«, er biß sich auf die Lippen, »mit meinem Vater?«
Für Remus war das eine anerkennenswert doppeldeutige Formulierung, dachte Ulsna, denn es ließ sich nicht festlegen, ob er von Faustulus oder seinem tatsächlichen Vater sprach. Er konnte sich schon denken, woher der Wind wehte, und hatte nicht die Absicht, Proknes kleines Spiel mitzuspielen. Doch er hatte auch keine Lust, den Knaben vor sich direkt anzulügen. Das Gespräch, das er vor kurzem mit Ilian geführt hatte, lieferte ihm die rechte Umschreibung.
»Deine Mutter hat keinen anderen in ihr Herz gelassen, es sei denn, als ihren
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