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Die Söhne der Wölfin

Titel: Die Söhne der Wölfin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tanja Kinkel
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nicht an Remus, wenn es um die wirklich schwierigen Entscheidungen ging; die führenden Männer in den Dörfern gingen zuerst auf ihn zu, ohne nachzudenken, und obwohl die Mehrzahl der Mädchen in Xaire sich sofort auf Remus gestürzt hatten, war Ulsna nicht entgangen, daß ihre Blicke immer wieder zu dem anderen Bruder gewandert waren. Es mußte die Ausstrahlung ständig gezügelter Energie sein, schloß Ulsna. Bei Remus lag alles offen zutage wie bei einem breiten, ruhigen Fluß. Romulus kam ihm vor wie ein Topf, in dem es brodelte, ohne daß es möglich war, das kochende Wasser zu sehen. Nur gelegentlich spritzte etwas heraus und verbrannte einen, wie bei ihrem Gespräch in der Schenke. Irgendwann würde das siedende Wasser überlaufen, und dann wehe jedem, der in der Nähe stand.
    Ilian würde in der Nähe stehen, dessen war Ulsna sich unglücklicherweise sicher. Nicht, daß er ihr nicht zutraute, mit den meisten Dingen fertigzuwerden, die ein noch so gerissenes Bürschlein für sie bereithalten mochte. Doch in diesem speziellen Fall konnte sie nur verlieren, selbst wenn sie gewann. Er beobachtete sie dabei, wie sie mit ihren Söhnen umging, während die Zeit bis zu Romulus’ Aufbruch immer schneller verfloß. Zu Remus war sie nicht anders als in den vergangenen Jahren auch; sie hatte wohl bemerkt, daß er sich zurückgesetzt fühlte, bat ihn bei Kleinigkeiten um Rat, die sie eigentlich selbst hätte erledigen können, und sprach mit ihm über seine gewonnenen Wettkämpfe in Korinth oder die Löwenjagd, zu der Psammetich ihn mitgenommen hatte. Aber ihr Verhalten Romulus gegenüber konnte selbst Ulsna, der sie kannte, seit sie so alt gewesen war wie die Zwillinge jetzt, nicht einordnen, weil er sie noch nie so erlebt hatte.
    Ulsna hatte es genauso gemeint, als er zu Remus gesagt hatte, das Verhalten von Romulus erinnere ihn an einen Mann, der die Frau seines Herzens umwarb, und selbst wenn es sich bei der betreffenden Frau nicht um Romulus’ Mutter gehandelt hätte, wäre ihm das angesichts des Hasses, den der Junge gleichzeitig ausstrahlte, unheimlich gewesen.
    Was ihn jedoch noch tiefer verstörte, war, wie Ilian darauf einging. Ulsna hatte ausreichend Gelegenheit gehabt, sie dabei zu beobachten, wie sie sich um Menschen bemühte, die sie brauchte, ob es nun Iolaos gewesen war, die Herrin Nesmut oder Psammetich. Das war es nicht, was sich hier abspielte. Als er ihr half, ihre Sachen zu packen, fand er einmal ein paar gepreßte Blumen. Es war einfach unnatürlich für Ilian, Blumen aufzubewahren; so benahm sich höchstens ein für seinen eromenes schwärmender erastes. Ilian hatte auch nie einem anderen Menschen, ganz gleich, ob sie ihn nun mochte oder nur ausnutzen wollte, nachgeblickt, selbst wenn sie gewiß war, daß er es nicht bemerken würde. Und es war eine Sache, wenn er, Ulsna, sie so gut kannte, daß er Sätze, die sie anfing, inzwischen beenden konnte, oder das gleiche umgekehrt bei ihr erlebte; schließlich hatten sie inzwischen die Hälfte ihres bisherigen Lebens miteinander geteilt. Es war jedoch eine ganz andere Sache und durch und durch beunruhigend, daß Ilian und dieser Junge, die einander, miteingerechnet die Zeit, die sie vor ein paar Jahren hier verbracht hatte, kaum ein Jahr kannten, ebenfalls dazu in der Lage waren. Was dem Ganzen noch die Krone aufsetzte und schlimmer war, als es Gleichgültigkeit oder offene Zuneigung gewesen wären: Ilian zeigte andererseits auch unregelmäßig Ausbrüche von Haß, wie damals, als sie Faustulus verlassen hatte. Nicht, daß es Remus auffiel, doch Ulsna, der die ganze Zeit Romulus im Auge behielt, entging nicht, daß dieser bei manchen eigentlich unverfänglich klingenden Bemerkungen zusammenzuckte, die offenbar auf etwas zielten, das nur ihm und Ilian bekannt war.
    Als Romulus endlich aufbrach, um sich mit Numa zu treffen, war Ulsna ernsthaft in Versuchung, erleichtert aufzuseufzen. Statt dessen blieb er ruhig, selbst als der Junge sich nach der Umarmung seines Bruders mit einem deutlich höhnischen Blick auf ihn, Ulsna, Ilian zuwandte und sie auf den Mund küßte. Immerhin war es kein langer oder in irgendeiner Weise unangemessener Kuß; in einigen Dörfern, in denen Anhänger zu ihnen gestoßen waren, hatten sich diese auch so von ihren Müttern verabschiedet. Aber Ulsna war zu mißtrauisch, um irgend etwas, das Romulus tat, noch als harmlos einzuordnen. Sobald Remus traurig zu seinen verbliebenen Freunden entschwunden war, entschied Ulsna, daß es an

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