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Die Söhne der Wölfin

Titel: Die Söhne der Wölfin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tanja Kinkel
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daß er eine Waffe hätte mitnehmen sollen. Tatsächlich trug er keinen Faden am Leib; er hatte sich seiner Tunika entledigt, als er mit der Säuberung des Hauses begonnen hatte. Er war nackt, er fror, doch sein Zittern hatte kaum etwas mit der Kälte zu tun.
    Es würde noch mindestens zwei Stunden dauern, bis die Sonne aufging, doch der Vollmond schien hell, und Larentias Gestalt, die am Eingang der Hütte lehnte, zeichnete sich wie ein heller Umriß scharf vor dem Dunkel ab. Sie wandte den Kopf, als sie ihn hörte, legte eine Hand auf den Mund und wies mit der anderen ins Innere. Es dauerte etwas, bis der Anblick in ihn hineinsickerte und das würgende, trockene Gefühl in seiner Kehle, das blanke Furcht war, auflöste. Da lag die Wölfin mit ihren Welpen, und zwischen ihnen, mit der gleichen Beharrlichkeit an den Zitzen saugend, lagen die Kinder.

    Faustulus haßte das verwünschte Tier immer noch, und das schien auf Gegenseitigkeit zu beruhen. Zu allem Überfluß knurrte es ihn jetzt jedesmal an, wenn es ihn die Kinder berühren sah. Er war der Wölfin widerwillig dankbar dafür, das unmittelbare Problem mit der fehlenden Milch gelöst zu haben, doch er schwor sich, dafür zu sorgen, daß es sich nicht wiederholte, wenn er es vermeiden konnte. Wenn man die Kuhmilch durch eines der getrockneten Schilfrohre, mit denen er gewöhnlich das Dach verstärkte, tropfen ließ, dann schluckten die Kinder sie auch. Selbst Larentia mußte ihm recht geben, daß es zu gefährlich war, die Kleinen mitten in einer Schar von Jungtieren mit Krallen und Zähnen zu lassen, bei denen selbst Liebkosungen gefährlich wären.
    »Außerdem«, schloß Faustulus, »wenn sie von einer Wölfin genährt werden, dann werden sie den Verstand von Wölfen bekommen!«
    »Besser als den Verstand von Kühen«, murmelte Larentia, war jedoch durchaus zu dem Versuch bereit, ihre Säuglinge selbst mit Kuhmilch zu füttern.
    Sie erholte sich von der Geburt nicht so schnell wie die Frauen des alten Dorfes, in dem er aufgewachsen war, von denen einige zwei Tage nach der Geburt wieder auf den Feldern arbeiteten, doch sie genas und wurde wieder kräftiger. Während der Mond abnahm und sich erneut rundete, gewann sie auch ihre frühere Behendigkeit zurück. Was Faustulus verwirrte, war ihr Verhalten den Zwillingen gegenüber. Oh, sie kümmerte sich durchaus um sie; wie er es vorhergesehen hatte, nahmen sie ihre Zeit ganz in Anspruch. Aber als er sie fragte, wie sie die Kinder nennen wolle, schüttelte sie den Kopf und fügte hinzu: »Gib du ihnen die Namen.«
    Nun waren Namen bei seinem Volk durchaus die Sache des Vaters - richtige Namen, diejenigen, welche die Jungen für den Rest ihres Lebens tragen würden. Nur wartete man üblicherweise damit ein Jahr, aus dem einfachen Grund, weil viele Säuglinge vorher starben und ein guter, starker Name nicht verschwendet werden sollte. Bis dahin wurden die Kinder von ihren Müttern mit Kosenamen angesprochen, und er hatte noch nie gehört, daß eine Mutter darauf verzichtete. Nun, Larentia summte den Kindern wohl etwas vor, wenn sie sie fütterte oder wusch, sie erzählte ihnen Geschichten, die sie unmöglich verstehen konnten, aber niemals, kein einziges Mal, hörte er sie etwas wie »Herzchen«, »Schätzchen«, »Häschen« oder ein anderes der zahlreichen Koseworte von Müttern für ihre Kinder gebrauchen. Statt dessen bedeckte sie manchmal die Augen mit den Händen, als tue der Anblick ihr weh.
    Ganz ohne Namen waren Kinder schutzlos, und so beschloß Faustulus, auf das Überleben der Kleinen zu vertrauen. Er bat Larentia, sie auf den Boden zu legen, und hob sie dem Brauch nach auf. »Ich nenne dich Remus«, sagte er stolz zu dem kräftigeren der beiden. Remus war der Name von Faustulus’ Vater gewesen. Dann hob er den schmächtigeren auf und lächelte ihn an. »Dich nenne ich Romulus.« So hatte sein Großvater geheißen, nicht so stark wie der Vater, aber zäh und listig wie ein Fuchs.
    »Du liebst sie«, stellte Larentia fest, und es klang gleichzeitig wie eine Frage. »Du wirst sie nicht verlassen, wenn... wenn mir etwas passiert?«
    Das war es, dachte Faustulus erleichtert. Wegen ihres Mangels an Milch fürchtete sie immer noch, krank zu werden und zu sterben, wie es Frauen manchmal nach der Geburt taten, und deswegen behandelte sie die Kinder so zurückhaltend. Dabei brauchte sie sich keine Sorgen mehr zu machen. Er hatte sich vorsichtshalber noch einmal im Flußdorf erkundigt. Wenn eine Frau in den ersten

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