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Die Söhne der Wölfin

Titel: Die Söhne der Wölfin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tanja Kinkel
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derartigen Befehl hatte er mit einer Mischung aus Furcht und Erwartung angenommen, er würde Prokne dabei erleben, wie sich mit einem Gast ihren Reichtum verdiente, doch anscheinend war Prokne in diesem Punkt heikler als die Mädchen in den heimatlichen Schenken. Bei zwei der drei Männer, die er zu Gesicht bekam, geschah nichts weiter, und beim dritten schickte sie ihn hinaus.
    »Die Macht des Körpers«, sagte Prokne bei einer ihrer Unterredungen mit Ilian, »ist die größte von allen. Selbst die Götter beugen sich ihr. Doch man muß sie auch richtig einzusetzen wissen. Die Ehefrauen und die Straßenmädchen, sie vergeuden sie beide. Aber die Frau, die weiß, wie man durstig macht, ohne den Durst sofort zu löschen oder einen schalen Geschmack im Mund zu hinterlassen, die Frau, die ein Fieber entzündet, das nicht lodert, sondern langsam verzehrt, diese Frau hält in ihren Händen, was sie zu halten wünscht.«
    »Die Macht des Körpers«, wiederholte Ilian und setzte sich auf. »Ist das nicht die Macht, die sich selbst verzehrt? Der Körper ist ein Verräter. Er stirbt jeden Tag ein wenig, jeden Tag etwas mehr. Wo ist diese Macht im Alter?«
    »Nun glaube ich wirklich, daß du eine Priesterin bist. Nur Priester sind derart darauf versessen, an allem nur das Schlechte zu sehen. Wenn ich alt bin, wird mir mein Reichtum immer noch ein angenehmes Leben bereiten.«
    »Und wer wird dich dann davor schützen, daß dein Reichtum dir genommen wird? Es gibt keinen König, vor dem du Klage führen könntest, und selbst wenn es ihn gäbe, so stehen bei euch, nach allem, was ich gehört habe, den Frauen keinerlei Rechte zu.«
    »Ist es denn irgendwo anders?« gab Prokne heftig zurück. »Warst du denn frei in deinem eigenen Land? Bei allen Göttern, ich habe bessere Dinge zu tun, als mir dieses Gerede anzuhören.«
    Damit rauschte sie hinaus. Ilian schaute ihr schweigend nach, bis Ulsna meinte:
    »Du hast sie verärgert.«
    »Ich habe nichts gesagt, was sie nicht weiß. Sie fürchtet sich davor, und deswegen gibt sie sich mit mir ab, glaube ich. Aber sie hat ebenfalls recht. Ich war nicht frei.«
    »Es heißt, die Amazonen lebten in Freiheit«, murmelte Ulsna nachdenklich. »Aber die letzte ihrer Königinnen starb vor Troja, und danach verschwanden sie. Es gibt ein langes Lied darüber. Würdest du als Amazone leben wollen, Ilian?«
    Er war überrascht, als sie den Kopf schüttelte. »Auf diese Weise kann ich nicht kämpfen, nicht mit dem Schwert und dem Bogen.«
    Wieder war es sein Gehör, das ihn auf Ungesagtes aufmerksam machte. »Auf welche Weise denn?«
    »Ich suche noch nach meiner Weise«, erklärte sie. »Es gibt einiges, das ich bereits in mir trage, aber es genügt noch nicht. Und es mag durchaus sein, daß Prokne mich lehren kann, was mir noch fehlt.«
    Die letzte Äußerung kam so unerwartet, daß Ulsna glaubte, sie müsse wieder in die traumartige Verwirrung verfallen sein, in die ihr Fieber sie manchmal schickte. Er raffte sich aus seiner Ecke auf, kniete neben ihr nieder und legte ihr die Hand auf die Stirn. Was er fühlte, überraschte ihn noch mehr.
    »Ilian!« rief er. »Dein Fieber ist fort!«
    »Ich weiß«, erwiderte sie, und ihre Finger trommelten ruhelos auf dem glattpolierten Holz der Liege.
    Prokne saß vor ihrem Spiegel und sortierte die kleinen Fläschchen aus Ton, Silber und Bronze, die ihr dabei halfen, das makellose Gesicht herzurichten, das sie der Welt zu zeigen pflegte. Eigentlich hatte sie bereits alles aufgetragen, was sich zu dieser Tageszeit rechtfertigen ließ. Das Henna unterstrich das Rot ihrer Lippen, ohne aufdringlich zu wirken, und verbesserte den Schwung ihrer Oberlippe, die ihr immer etwas zu schmal erschien. Bleiweiß und Puder sorgten dafür, daß ihrer Haut nicht die kleinste Unebenheit anzumerken war, und niemand wäre in der Lage, die Kohle, mit der sie ihre Augenbrauen nachgezeichnet hatte, auszumachen. Sie war eine Künstlerin, und sie verstand ihr Handwerk.
    Das Stellen und Umstellen der Fläschchen beruhigte sie. Ihr letztes Gespräch mit ihrem unerwarteten Hausgast lag nun schon zwei Tage zurück, und sie verstand nicht, warum sie noch darüber nachdachte. Eigentlich sollten die Unterredungen mit dem Mädchen ihr zur Zerstreuung dienen, mehr nicht. Die Entdeckung der Schwangerschaftsstreifen bei der Kleinen hatten ein gewisses Mitleid, vermengt mit Bedauern und Neid, in ihr ausgelöst. Sie selbst konnte keine Kinder bekommen. Sie hatte dafür gesorgt. Eine Hetäre war

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