Die Söhne der Wölfin
verstehen lernen.«
Ulsna kümmerten die ägyptischen Götter nicht besonders, obwohl er demjenigen von ihnen, der ihm das Gesteinigtwerden ersparte, dankbar war. Was ihn in Ägypten, abgesehen von der Aussicht, irgendwann einmal »seinen Segen geben« zu müssen, mehr beschäftigte, war das Begreifen des alltäglichen Lebens, und darunter verstand er nicht nur die Sprache. Schon allein die Tiere schienen allesamt Märchen und Liedern entsprungen zu sein. Selbst Ilian verfiel befriedigenderweise in stummes Staunen, als er ihr aufgeregt ein riesiges, ungeschlachtes Tier zeigte, das den größten Teil seiner graubraunen Massen in dem Fluß verbarg, an dem der Palast lag. Dann entdeckten sie noch mehr graubraune Höcker im Fluß und schlußfolgerten, daß es viele solcher Tiere geben mußte. Auf einem saß sogar ein Reiher und pickte mit seinem langen, spitzen Schnabel in dessen Rücken, was das Ungeheuer offenbar nicht weiter störte. Nur ab und zu gaben die dicken Riesen ein wäßriges Gurgeln und Schnauben von sich. Keiner der Ägypter zeigte Furcht; im Gegenteil, nach einiger umständlicher Fragerei erfuhr Ulsna, dies seien glückbringende Tiere, den Göttern heilig.
Dann gab es Vögel, die jeden Morgen als Geschenk ein Ei legten. Sie waren größer als Enten und nicht wie diese im Fluß daheim, sondern wurden auf dem Trockenen gehalten, stanken und gaben mißtönende Laute von sich, wenn man ihnen ohne Körner zu nahe kam. Doch die Eier, die sie legten, waren größer und wohlschmeckender als Enteneier. Auch das Fleisch dieser Vögel ließ sich, als Ulsna es zum ersten Mal kostete, nicht verachten. Es lag nicht so schwer im Magen wie Entenfleisch und schmeckte würziger.
»Ich kenne jemanden, der sehr dankbar für solche Vögel wäre«, sagte Ilian nachdenklich. »Wenn wir das Land wieder verlassen, müssen wir unbedingt ein paar mitnehmen.«
Was Ulsna ebenfalls auf seine heimliche Liste mitnehmenswerter Güter setzte, war ein Getränk, das unter den Sklaven genauso beliebt war wie unter den Gästen, die Nesmut gelegentlich empfing. Es schäumte, wenn man es einschenkte, und brannte ein wenig auf der Zunge, doch es stieg einem nicht so sehr zu Kopf wie Wein. Die Ägypter nannten es Bier. Anders als die Vögel, die Eier als Geschenk legten und, wie er hörte, aus Babylon stammten, wurde Bier als etwas rein Ägyptisches bezeichnet, das es nirgendwo anders gab. Ulsna machte den Fehler, beim ersten Mal gleich zuviel davon zu trinken, weil es, anders als beim Wein, kein Gefühl gab, das ihm die Zunge beschwerte. An diesem Abend stand er auf der Gartenmauer und sang, bis ihn Ilian, die von einem der anderen Sklaven herbeigeholt worden war, bat, herunterzukommen.
»Komm du lieber herauf!« rief Ulsna. »Die Macht der Götter ist in mir, Ilian! Endlich verstehe ich, wie du dich fühlst! Ich könnte die ganze Welt umarmen!«
Zu seiner Überraschung kletterte sie tatsächlich zu ihm auf die Mauer. Er wies mit einer weitausholenden Geste auf die Sterne, die ihm trotz der Schwüle der Nacht hier heller und klarer schienen, als er sie von seiner Heimat her in Erinnerung hatte.
»Wünsch dir, was du willst«, sagte er zu Ilian und legte ihr einen Arm um die Schultern. »Welchen davon willst du haben? Wenn ich dir einen schenke, was tust du dann für mich?«
»Ich hole dich von der Mauer herunter, ehe du stürzt«, entgegnete Ilian energisch. Dann spürte er ihren Körper beben, während sie, die ebenfalls etwas von dem Bier getrunken hatte, in ein Kichern ausbrach. »Kann ich sie alle haben, bitte?« verlangte sie ein wenig atemlos. »Alle Sterne?«
»Aber selbst -, selbst -, selbstverständlich.«
»Wir sollten jetzt wirklich von der Mauer heruntergehen, bevor du dir etwas brichst.«
»Du sollt -, solltest mehr Bier trinken. Du bist schon fast menschlich heute nacht, aber noch nicht ganz. Ich möchte dich einmal betrunken sehen, Ilian.«
»Das möchtest du nicht«, sagte sie jäh ernüchtert und duldete keine Verzögerungen mehr. »Ganz bestimmt nicht.«
Alles in allem war die Sklaverei ein seltsames, aber kein schlimmes Leben. Bis der Herr Necho zurückkehrte, und mit ihm sein Sohn.
Nesmut hatte bei dem Kauf der beiden Fremden mehr einer Laune nachgegeben als einer aufrichtigen Hoffnung auf angemessene Gegenleistung. Indessen mußte sie zugeben, daß sich die beiden als anstellig und nützlich erwiesen. Der Barde spielte nicht schlecht, wenngleich es seinen Weisen noch an der ägyptischen Süße mangelte, und
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