Die Söhne der Wölfin
der glückliche Umstand, daß er sich als Lotoskind entpuppt hatte, war ein günstiges Zeichen. Die Frau war ihr ein Rätsel, und sie fragte sich immer häufiger, aus welchem Grund sie sich wirklich in die Sklaverei verkauft hatte. Für Nesmut war sie ein Schleifstein, an dem sie ihren Geist schärfen konnte, der einer Klinge glich, die, von vielen Kämpfen erschöpft, lange, lange nicht mehr aus der Scheide geholt worden war. Seit Necho sich von ihr abgewandt hatte und sie zuließ, daß seine Erfolglosigkeit sie herunterzog wie Schlingpflanzen einen ahnungslosen Schwimmer.
»Das Land Kusch lag uns einst zu Füßen. Die Nubier waren dankbar, unsere Diener sein zu dürfen. Die Assyrer waren armselige Hirten mit Dreck zwischen den Zehen. Wie konnten sich die Götter nur von uns abwenden und sie begünstigen?«
»Wir glauben«, entgegnete ihre neue Sklavin bedächtig, »daß jedem Volk seine Zeitspanne zugeteilt ist.«
Nesmut machte eine wegwerfende Handbewegung. »Unsinn. Das mag für andere Völker zutreffen. Nicht für uns. Unsere Geschichte reicht weiter zurück als jede andere, bis zum Anfang aller Zeit. Und wir werden da sein bis ans Ende aller Zeit. Zugegeben, manchmal suchen uns Momente der Schwäche heim. Die Hyksos kamen aus der Wüste, um hier zu herrschen, doch schließlich wurden sie vertrieben. Eine Zeit der Prüfungen, aber schließlich ging sie vorüber.« Erbittert setzte sie hinzu: »Warum also diese Prüfung nicht auch?«
Es war gefahrlos, dergleichen vor der Sklavin Ilian zu äußern, nun, da sie sich in Nesmuts Besitz befand. Eine Sklavin existierte nicht und würde nie von einem der Assyrer oder gar von Taharqa, der sich wieder in ihrer fernen, verlorenen Heimat Theben eingeigelt hatte, wahrgenommen werden. Und wenn sie ihrer Zuhörerin überdrüssig wurde, so konnte sie die Frau jederzeit töten lassen, um mit ihrem Fleisch die Krokodile zu füttern. Also kam sie auf den eigentlichen Kern ihres Grimms zu sprechen.
»Warum war den Bemühungen meines Gemahls kein Erfolg beschieden? Er wollte Ma’at in Ägypten wiederherstellen, den Zustand göttlicher Gerechtigkeit, den die Fremden zerstört haben. Die Götter hätten ihn schirmen müssen.«
Ilian räusperte sich. »Ich gehört... ich habe gehört... und verzeih mir, Herrin, wenn es falsch... der fremde Pharao, er sagt, er achtet die Ma’at ebenfalls. Ehrt er nicht sogar das höchste Orakel in Theben?«
»Oh, er ist gerissen! Schon sein Vater war so listenreich wie eine Schlange, der verfluchte Piye, der seine Schwester zur Gottesgemahlin Amons in Karnak machte. Damals lief die Priesterschaft Amons schon zu den Nubiern über. Sie behaupteten, es sei der Wille des Gottes gewesen, doch ich weiß noch genau, wie mein Vater sie verfluchte, weil sie sich kaufen ließen. Piye, Schabako, Schebitku und Taharqa, jeder einzelne dieser anmaßenden Nubier hat sich gut mit der Priesterschaft gestellt, neue Tempel gebaut und dafür gesorgt, daß die Gottesgemahlin Amons immer eine der ihren blieb. Gottesgemahlin Amons! Das ist ein Amt, das nur der Schwester oder Tochter eines Herrn beider Länder zusteht, und ehe die Nubier kamen, hätte es keiner der Fürsten in diesem Land gewagt, so anmaßend zu sein, um es zu beanspruchen. Meine Familie gehörte zu den Mächtigen in diesem Land, und doch hätten wir nie...«
»Dann kann man sagen, die Nubier haben das Land geeint?« unterbrach Ilian, und einen Moment lang zog Nesmut in Erwägung, sie wegen dieser Unbotmäßigkeit hinauszuwerfen. Doch die Aussicht auf viele Stunden, in denen sie die gleichen Gedanken ohne Widerhall plagten, in denen sie ohne Ablenkung in ihrer eigenen schwelenden Enttäuschung versank wie die Krokodile im Nil, ließ sie darauf verzichten. Eine verständige Erwiderung selbst in gebrochenem Ägyptisch war dem vorzuziehen, solange die Kühnheit der Fremden nicht zu weit ging.
»Für sich selbst, zu ihrem eigenen Nutzen. Nur für sich selbst.«
»Gewiß«, entgegnete Ilian, biß sich auf die Lippen und wechselte unversehens ins Griechische über. »Doch darin könnte deine Antwort liegen, Herrin. Nach dem, was du sagst, hat es längere Zeit keinen Herrn beider Länder gegeben, und also auch keine Gottesgemahlin für Amon. Vielleicht haben eure Götter die Nubier ins Land geholt, damit sie ihm die Einheit wiedergeben und um die unwürdigen Fürsten, die es zersplittert gelassen haben, zu strafen. Vielleicht warten sie darauf, daß nun, da die Nubier die äußere Einheit
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