Die Söhne.
Bin ich ein jüdischer Caligula, ein jüdischer Nero?« – »Viele sprechen von Ihrer Tyrannei«, sagte behutsam Josef. »Würden Sie«, sagte der Großdoktor, »nach den andern auch mir erlauben, mich über meine despotischen Prinzipien zu äußern? Mir liegt daran, gerade Ihnen nicht in falschem Licht zu erscheinen. Ich weiß, ich darf Sie eigentlich nicht mehr zu den Unsern rechnen; ich müßte Sie, ginge ich nach dem Buchstaben, als Ketzer vor mein Gericht ziehen. Aber ich bin kein Narr, ich sehe die Menschen, wie sie sind, und ich möchte mit jenem Griechenkönig zu Ihnen sagen: ›Da du bist, wie du bist, möchte ich, du wärest einer der Unsern.‹«
Er war aufgestanden, bat aber den Josef, liegenzubleiben, lehnte an einem Türpfeiler, hielt eine Rede. Doch sprach er so schlicht, daß, was er sagte, nicht rednerisch wirkte, sondern als Erklärung von einem Mann zum andern. »Meine Gegner werfen mir vor«, begann er, »daß ich auf den Universalismus verzichte, den die Lehre vorschreibt. Ich verzichte nicht. Aber ich weiß, daß es zur Zeit unmöglich ist, diesen Universalismus in Wirklichkeit umzusetzen. Es sind in der Lehre Vorschriften, die jedes Zeitalter erfüllen kann, und Vorschriften so idealer Art, daß sie erst erfüllt werden können, wenn der Messias erschienen ist und der Wolf neben dem Lamme weidet. Ich habe mir den Wolf genau angeschaut: er bezeigt vorläufig wenig Neigung dazu. Das Lamm tut also gut, sich vorzusehen.
Ich kenne meinen Philo und weiß, das letzte Ziel bleibt, die Welt mit jüdischem Geist zu erfüllen. Aber bevor man das kann, muß man erst einmal zusehen, den jüdischen Geist vor dem Verschwinden zu bewahren; denn er ist sehr gefährdet. Zu Jesajas hat Jahve gesagt: ›Es ist ein Geringes, daß du die Stämme Jakobs aufrichtest und mir die Bewahrten Israels erhältst. Vielmehr habe ich dich auch zum Licht der Heiden bestimmt, daß du mein Heil verbreitest über alle Erde.‹ Ich bin kein Jesajas. Ich begnüge mich mit dem ›Geringen‹. Für mich ist es kein Geringes, für mich ist es sehr schwer. ›Richtet einen Zaun auf um das Gesetz‹, hat Jochanan Ben Sakkai gelehrt, und das ist mein Amt, und den Zaun will ich aufrichten, und über den Zaun sehe ich nicht hinaus und will es auch nicht. Ich bin nicht hierhergestellt, um Weltgeschichte zu machen. Ich kann nicht auf die nächsten fünf Jahrtausende hinausdenken. Ich bin froh, wenn ich die Judenheit über die nächsten dreißig Jahre hinwegbringe. Mein Amt ist es, daß die fünf Millionen Juden der Erde Jahve weiter verehren dürfen wie bisher, daß das Volk Israel erhalten bleibt, daß die mündliche Lehre unverfälscht an die Späteren weitergegeben wird, wie sie mir überliefert wurde. Aber nicht mein Amt ist es, dafür zu sorgen, daß Jahve in der Welt herrscht. Das ist seine eigene Sache.« Josef hörte zu. Er bemühte sich, das weise und traurige Gesicht Ben Ismaels im Geist vor sich hinzustellen, die große, kahle Stirn, die milden, fanatischen Augen. Aber es wurde zugedeckt von dem dunkelbraunen, tatkräftigen Antlitz des Großdoktors, und es gelang Josef auch nicht, die tiefe Stimme Ben Ismaels mit seinem innern Ohr zu hören. Vielmehr hörte er nur die klare Stimme Gamaliels, die ihn an die Stimme des Titus erinnerte, wenn der von militärischen Dingen sprach.
»Ich bin Politiker«, fuhr diese Stimme fort, »das wirft man mir vor. Ja, ich bin es. Ich gebe ohne weiteres zu, mich interessiert die Organisation des Kollegiums mehr als die Frage, ob ein Ei, das am Sabbat gelegt wurde, gegessen werden darf oder nicht. Worauf es mir ankommt, ist, daß darüber nicht sechs oder auch nur zwei Meinungen Gesetzeskraft haben, sondern eine. Ich möchte, daß das Ei entweder überall gegessen werden darf, in Rom und in Alexandrien und in Jabne, oder nirgends; aber nicht, daß Doktor Perachja es verbietet und Doktor Ben Ismael es erlaubt. Leider ist diese Einheit bei der Art unserer Doktoren nur durch Despotie zu erzielen. Wenn der Hirte lahm ist, sagt das Sprichwort, laufen die Ziegen auseinander. Ich lasse meine Ziegen nicht auseinanderlaufen.
Ich habe Ben Ismael gesagt: Ich denke nicht daran, dir deinen Glauben vorzuschreiben. Träume dir Jahve zurecht, wie du willst, glaube an Satan oder glaube an den Allguten. Aber das Zeremonialgesetz muß eindeutig sein, hier dulde ich keine Vieldeutigkeit. Die Lehre ist der Wein, und die Riten sind das Gefäß, und wenn das Gefäß einen Sprung bekommt oder gar ein
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