Die Söhne.
Josef abzuberufen, als er Kommissar in Galiläa war. Später dann war dieser gewalttätige Doktor Simon auf grausige Art umgekommen; der fanatisierte Pöbel, dem er noch immer nicht patriotisch genug gewesen, hatte ihn auf wüste Art zu Tode mißhandelt. Gamaliel war damals fast noch ein Knabe gewesen, er hatte soeben erst die geheimnisvollen Weihen des zum Erzpriester Bestimmten erhalten; denn als Sprößling eines uralten Adelsgeschlechts und als Nach fahr Hillels, des größten der Doktoren, wurde er von früh auf zum Herrschen erzogen. Jochanan Ben Sakkai hatte damals mit List und Energie bei den Römern freies Geleit für ihn erwirkt und ihn aus der belagerten Stadt gerettet. Es war natürlich, daß man nach dem Tod Jochanan Ben Sakkais ihm das Präsidium des Kollegiums von Jabne übertrug. Was Josef über die Amtsführung des neuen Großdoktors gehört hatte, war widerspruchsvoll. Viele haßten, wenige liebten, fast alle achteten ihn.
Gamaliel kam Josef mit schnellem Schritt entgegen, begrüßte ihn respektvoll, umarmte ihn, küßte ihn, nannte ihn »Mein Doktor und Herr«. »Es war Feindschaft zwischen meinem Vater und Ihnen«, sagte er. »Ich habe mit Befriedigung gelesen, mit welch ritterlicher Sachlichkeit Sie in Ihrem Buch von meinem Vater sprechen. Ich danke Ihnen.« Josef freute sich, daß er sich nicht hatte hinreißen lassen, heftiger über den gewalttätigen Doktor Simon zu schreiben.
Gamaliel war wenig über Dreißig. Josef wunderte sich, wie außerordentlich jung er aussah. Stattlich, von angenehmen, beherrschten Bewegungen, hatte er ein offenes, dunkelhäutiges Gesicht mit lebhaften, sehr gewölbten, braunen Augen; ein kurzer, rotbrauner Bart, viereckig, kantig geschnitten, zeigte mehr, als daß er es versteckte, das starke Kinn und den fleischigen Mund mit den großen, etwas auseinanderstehenden Zähnen.
Der Vorhang, der den Speiseraum abschloß, wurde hochgezogen, man ging zu Tisch. Die Räume waren weit, die Möbel, die Zurichtung der Tafel fürstlich; an den Wänden, auf dem Mosaik des Fußbodens, auf den Platten und Schüsseln war das Emblem Israels, die Weintraube. Der Großdoktor und seine Umgebung paßten zueinander; Josef sagte sich, daß Gamaliel auch im Senat von Rom gute Figur machen würde.
»Ich höre«, wandte sich Gamaliel jetzt mit scherzhafter Offenheit an Josef, dem er den Ehrenplatz auf dem mittleren Speisesofa angewiesen hatte, »daß meine Doktoren Ihnen bei Ihrer Ankunft allerhand Schwierigkeiten gemacht haben. Man hat es nicht immer leicht mit meinen Doktoren«, seufzte er lächelnd, unbekümmert darum, daß einige der Herren da waren. »Das weiß niemand besser als der Mann, der ihnen zu präsidieren hat. Sie haben für alles und in jeder Situation Argumente an der Hand. ›Sie dienen mir mit triftigen Beweisen‹«, zitierte er griechisch den Aristophanes, »›daß füglich und mit Recht der Sohn den Vater prügeln darf.‹«
»Belehren Sie, bitte«, sagte höflich Josef, »einen Mann, der durch zehnjährige Abwesenheit seinem Vaterland fremd geworden ist, wie es kommt, daß Sie griechische Schriften verbieten und selber griechische Verse zitieren.«
»Mein verehrter Flavius Josephus«, erwiderte in geläufigem Griechisch der Großdoktor, »die Politik zwingt uns, immerzu mit Griechen und Römern zu verkehren. Wir erlauben also nicht nur unsern Politikern, sondern wir machen es ihnen zur Pflicht, Griechisch zu studieren. Es ist freilich nicht immer leicht, abzugrenzen, wer diese Erlaubnis haben soll. Aber wir sind da nicht kleinlich. Wir haben es zum Beispiel auch gerne gesehen, daß Ihr Freund Jannai, genannt der Acher, sich mit griechischer Bildung befaßte. Höchstwahrscheinlich muß ich mit einigen meiner Herren in absehbarer Zeit selber nach Rom, um bei Hofe gewisse dringliche Geschäfte der Universität zu betreiben. Ich glaube, es wäre da nicht förderlich, wenn wir nur aramäisch sprächen. Übrigens jammern mir schon jetzt einige meiner Doktoren die Ohren voll über die Todsünde, am Sabbat auf See zu sein. Aber ich denke, die Wiederaufrichtung Judäas ist zwei oder drei Sabbate auf See wert.«
Als Josef sich nach der Mahlzeit mit den andern entfernen wollte, hielt ihn der Großdoktor mit höflicher Dringlichkeit zurück. Josef blieb. »Sagen Sie, mein Doktor Josef«, bat ihn Gamaliel mit der Vertraulichkeit, mit der ein großer Herr den Gleichgestellten fragt, »hat man Ihnen viel über mein despotisches Regiment vorgejammert?
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