Die Söhne.
ist.
Auch mit den Doktoren über unsern Glauben zu disputie ren, lehnen wir ab. Wir könnten es nicht, selbst wenn wir wollten. Keiner von uns darf sich erdreisten, für einen andern zu sprechen als für sich selber. Dies eben unterscheidet uns von den Doktoren, daß wir niemand auf eine bestimmte Lehrmeinung festlegen wollen. Wir wiegen nicht logische und theologische Argumente gegeneinander ab, wir versenken uns in die Geschichte unseres Heilands. Aus seinen Worten und aus unserm Herzen holen wir unsern Glauben. Wir erlauben einem jeden von uns, die Worte des Heilands auf seine eigene Weise zu verstehen. Keiner ist gebunden an die Auslegung eines andern. Deshalb nennen viele von uns sich ›Gläubige‹, weil wir vorgeschriebene Meinungen nicht einfach annehmen, sondern weil jeder von uns gehalten ist, sich seinen Glauben aus der eigenen Brust herauszugraben.
Wir haben keine Grenzen für unsern Glauben, wir wollen keine haben. Wir haben nicht einmal einen gemeinsamen Namen. Bald nennen wir uns Gläubige, bald nennen wir uns Arme, bald nennen wir uns Christen. Wir müssen es den Doktoren überlassen, unsern Glauben zu definieren; sie haben mehr Vertrauen in ihre Weisheit. Wir selber können unser Gemeinsames nicht bei einem Namen nennen, wir wollen es auch nicht, wir sind zu demütig dazu.
Wir halten uns für Juden. Wir glauben, was die Doktoren glauben, wir halten die Gebräuche, wie die Doktoren sie uns vorschreiben. Aber wir glauben mehr, und wir stellen unser Leben unter strengere Grundsätze. Wir glauben nicht nur an die Priester, wir glauben auch an die Propheten. Wir geben dem Kaiser, was des Kaisers ist, aber wir glauben nicht, daß ein Verbot des Kaisers uns von der Verpflichtung entbinden kann, die Gebote Jahves zu halten. Und wir glauben, daß wir Kinder nicht nur eines jüdischen Gottes sind, sondern Gottes schlechthin. Wir wollen keinen aus seinen Grenzen herauslokken, der sich in seiner Enge wohl fühlt, aber uns ist aufgegeben, die Weite Jahves zu rühmen. Wir wollen Theologie, aber darüber hinaus wollen wir Religion. Wir wollen eine jüdische Kirche, aber darüber hinaus wollen wir Judentum.
Sehen Sie nicht, Sie, mein Doktor und Herr Ben Ismael, der es gut mit uns meint und unserm Glauben nicht fern ist, sehen Sie nicht, daß der Großdoktor uns mit seinem Vorschlag nur eine Schlinge legen will? Man wird uns Fragen stellen, auf die wir weder mit Ja noch mit Nein werden antworten können, man wird protokollieren, man wird statt eines Gutachtens das Protokoll den Römern vorlegen, man wird erreichen, daß die Römer unser Christentum für eine unerlaubte Religion erklären. Die Doktoren werden uns nicht ausschließen, sie werden es den Römern überlassen, uns zu bannen, so wie sie seinerzeit die Tötung des Messias den Römern zuschoben, und sie werden sich die Hände in Unschuld waschen.
Wenn Sie mich fragen, mein Doktor Ben Ismael, was ich glaube, dann forsche ich gern in meinem Herzen und lege vor Sie hin, was ich finde. Wenn einer schlichten und ehrlichen Gemütes zu uns kommt und Erläuterungen haben will, wir ruhen nicht Tag und Nacht, bis wir das rechte, einfache Wort gefunden haben. Aber es käme mir wie Lästerung vor, wenn ich mich im Lehrhaus von Jabne hinstellte und mit den Doktoren um die Einzelheiten meines Glaubens feilschte. Sollen sie uns verbieten oder uns von den Römern verbieten lassen. Ich will mir nicht die Duldung der Doktoren damit erkaufen, daß ich nur die halbe Wahrheit verkünde und die halbe unterschlage. Lieber verkünde ich geächtet und verfolgt die ganze. Wer die halbe Wahrheit sagt, den speit Gott aus seinem Mund. Selig sind, die um der ganzen Wahrheit willen Verfolgung leiden.«
Sehr bald und auf bittere Art sollte Doktor Ben Ismael erfahren, daß Gamaliels Loyalität Verstellung war. Der Angriff kam wuchtig und unvermutet.
Es gab ein uraltes Gebet, das dreimal täglich zu sprechen alle Juden seit Jahrhunderten verpflichtet waren und das seit der Zerstörung des Tempels als Ersatz des Opfers galt: die Achtzehn Bitten. Einige von diesen Bitten, die sich mit dem Wohl der Gemeinschaft befaßten, hatten durch die Zerstörung des Tempels ihren rechten Sinn verloren und waren widerspruchsvoll geworden. Man hatte sie provisorisch durch einige Bittsprüche aus der Zeit Juda Makkabis ersetzt. Allein auch diese, trotzdem sie aus einer Zeit der Unterdrückung und des zerstörten Tempeldienstes herrührten, wollten nicht recht zu den heutigen
Weitere Kostenlose Bücher