Die Somalia-Doktrin (German Edition)
extremen Maßnahmen zu begegnen: Man überspringt Mahlzeiten, man teilt Familien auf, man zieht in eine andere Gegend, verkauft Hab und Gut. Wir sehen uns womöglich vor einer Hungersnot in der Größenordnung der von 1992, der in Somalia 300.000 Menschen zum Opfer fielen.«
Die Journalisten nahmen seine Worte begierig auf; wie Schulkinder schrieben sie mit. Die Kameras von CNN, BBC, Fox News und anderen Sendern in der ersten Reihe liefen. Das klappte ja wie geschmiert.
»Die wesentlichen Gründe dafür sind Trockenheit und Konflikte. Uns liegen Berichte über Angriffe der Milizen bis tief in Somaliland und die dortigen IDP-Lager vor. Das macht Hilfslieferungen äußerst riskant.«
Um der Wirkung willen legte er eine Pause ein.
»Während die Vereinten Nationen und der Rest der Welt weiterhin tatenlos zusehen, startet Universal Action einen Spendenaufruf für eine halbe Milliarde Dollar. Ich übergebe das Wort jetzt an meinen geschätzten Kollegen George Stevens, den Direktor von Universal Action Ostafrika, der Ihnen weitere Einzelheiten geben wird.«
Harry Steeler trat vom Pult zurück. George Stevens nahm seinen Platz ein. Seine bebenden Hände umklammerten das Pult wie die eines Ertrinkenden eine Planke. Trotz der arktischen Brise aus den Lüftungsschlitzen der lärmigen Klimaanlage des Presseraums, lief ihm der Schweiß über das rote Gesicht. Harry wusste, wie zuwider George öffentliche Auftritte waren. Aber sie gehörten nun mal zum Job.
Harry nahm auf dem für ihn reservierten Stuhl am Ende der ersten Reihe Platz. Er musste insgeheim lachen, weil George gar so albern wirkte: klein und feist, Schweißflecken unter den Achseln, immer dieselbe bräunliche Hose mit entsprechendem Hemd.
George Stephens rasselte seine Rede herunter, kaum dass er Zeit zum Schlucken fand zwischen den Sätzen. Die Journalisten hinter Harry kicherten. Er wandte sich um und bedachte sie mit einem Blick, der sie auf der Stelle verstummen ließ.
George sprach über Somalilands Weg zur Demokratie seit seiner Loslösung von Somalia. Er verlor sich in endlosen Details über die »komplexe humanitäre Situation«, den Absturz des durchschnittlichen Haushaltseinkommens, den jähen Anstieg von Unterernährungsrate und Kindersterblichkeit, Malaria; Masern und Tuberkulose grassierten, was Zehntausenden das Leben kostete, und vieles mehr. Wer zum Teufel hatte dem Mann die Rede geschrieben? Sie hatten es hier mit einem Haufen unbedarfter Schreiberlinge zu tun, nicht mit Intellektuellen und Professoren.
Die Journalisten wurden entsprechend unruhig. Harry bedachte sie ein weiteres Mal mit einem gestrengen Blick. Diesmal klappte es nicht. Drei der Leute standen auf und schlurften die Reihen entlang Richtung Tür.
Das sah gar nicht gut aus.
Harry sah nach Georges Assistenten, der links hinter dem Schwätzer stand. Wie hieß der Mann gleich wieder? Egal. Ein Hanswurst wie alle anderen auch. Trotzdem, irgendjemand musste George stoppen, bevor der Raum sich leerte.
Harry ging hinüber.
»Und so verschlechtert sich die Lage in Somaliland von Tag zu–« George verstummte, als Harry ihm etwas ins Ohr flüsterte. Er schob seine Papiere zusammen, grinste verlegen und trat zurück.
»Die Lage verschlimmert sich von Tag zu Tag«, führte Harry den Satz zu Ende. Einige der Journalisten, die bereits am Gehen waren, blieben kurz vor der Tür stehen, als sie Harry übernehmen hörten. »Und deshalb haben wir Sie hergebeten. Hat jemand Fragen?«
Es herrschte das übliche Schweigen, dann hob sich fast ganz hinten blitzschnell eine Hand. Es war Jerome Sablon, der greinende Kerl mit der hässlichen Visage und dem dicken französischen Akzent von Agence France Presse.
»Ja, Mr. Sablon.«
»Zunächst einmal sollte ich Ihnen für eine außerordentlich interessante Pressekonferenz danken.« Einige seiner Kollegen lachten. »Aber ist es wirklich so schlimm?«
»Natürlich. Wir waren dort. Wir haben es mit eigenen Augen gesehen. Wir wissen, wovon wir reden.«
»Ich bin da nicht so sicher.« Jerome warf einen arroganten Blick über das Publikum. »Ich meine, niemand außer Ihnen macht so ein Tamtam. Ich habe heute Morgen mit dem World Food Programme gesprochen. Sogar die halten die Lage für völlig normal.
»Es herrscht jetzt im sechsten Jahr Trockenheit auf dem Sool-Plateau. Wenn wir warten und auch die nächste Regenzeit ausbleibt, ist es zu spät. UNO und WFP wissen das. Sie sind nur einfach unfähig, was dagegen zu tun.«
»Sie wollen damit doch
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