Die Somalia-Doktrin (German Edition)
Irgendwelche harten Fakten?«
Jerome verdrehte die Augen. Anne sprang mit ihm um wie mit einem ihrer Studenten. Er öffnete ein anderes Dokument und überflog es.
»Ich habe hier einen Bericht von UNHER über die Ernährungssicherheit in Somaliland aus diesem Jahr. Laut diesem sieht man dort zwar ein Risiko, aber keinen Grund, Alarm zu schlagen.«
Anne zündete sich eine weitere Zigarette an und inhalierte tief.
»Was denkst du?«, fragte Jerome.
»Dass es nicht reicht.«
»Um Himmels Willen, Anne, irgendwo müssen wir doch anfangen.«
»UA wird alles bestreiten. Was ist denn mit all den andern Sachen, über die wir eben gesprochen haben?«
»Kann ich nichts von beweisen«, sagte er. »Alles Hörensagen. Kannst du mir nicht was Handfesteres geben, solide Beweise? Ein einziges Mal?«
»Du bist doch der Journalist.« Als sie die Arme hochwarf, sorgte sie für einen Ascheregen. »Wenn du das jetzt veröffentlichst, bringst du dich um die Chance, damit groß einzuschlagen, wenn du dahintergekommen bist, worum es hier wirklich geht. Die wissen doch dann, dass du keine Ahnung hast, was sie vorhaben. Die werden ihre geballte PR-Maschinerie mobilisieren, um dich davon abzuhalten, nochmal den Mund aufzumachen. Wenn sie dich nicht vorher umbringen.«
Ein Telefon klingelte. Es war der Festnetzapparat. Anne hob ab und sagte etwas in den Hörer. Dann reichte sie ihn Jerome. »Dein Redakteur. Woher weiß der, dass du hier bist?«
»Ich hab’s ihm gesagt.«
Jerome murmelte einige Jas und Neins, dann gab er Anne den Hörer zurück.
»Kannst auflegen«, sagte er. »Er hat schon.«
»Und?«
»Er will morgen damit rauskommen. Er möchte den Text bis heute Abend.«
Anne ging auf das offene Fenster zu und starrte auf die Straße hinab. »Du kannst das nicht machen, Jerome. Es ist ein Riesenfehler. Warum hast du ihm das nicht erklärt?«
»Weil ich mit dem nicht reden kann. Genauso wenig wie mit dir. Ihr seid beide Schulmeister und keiner hört zu.«
»Ach, ich bin ein Schulmeister?«
»Hör zu, lass einfach gut sein, ja? Ich schicke meine Story ein und verstecke mich dann in den Alpen oder sonst wo, bis der Sturm sich gelegt hat.«
Mit aufgerissenem Mund fuhr Anne vom Fenster zurück.
»Dafür ist es zu spät.«
»Wieso?«
»Sie haben uns bereits aufgespürt. Der graue Ford da drüben. Da sieht einer ständig zu uns herauf. Ich glaube, er hat mich gesehen.«
»Woher willst du wissen, dass das einer von Harrys Leuten ist?«
Sie wandte sich um und blickte wieder hinaus.
Ihre Stimme bebte.
»Weil es Harry selbst ist.«
Kapitel 24
Paris, Frankreich
22. September 2003
Harry legte auf und starrte aus dem Wagen. Wie konnte man nur so inkompetent sein? Er hatte Jenny tags zuvor ausdrücklich zu verstehen gegeben, er bräuchte die Kontaktdaten aller Freunde und Kollegen Jeromes in Paris. »Aller«, er hatte es ganz ausdrücklich betont, aber offensichtlich war das bei ihr nicht durchgedrungen. Dumme Pute. Edward hatte ihm befohlen, sie bei der Mission einzusetzen, weil sie »vertrauenswürdig« sei. Harry hielt es für wahrscheinlicher, dass Edward sie einfach gern vögelte. Für den spielte es keine Rolle, wie gescheit sie tatsächlich war.
Wie auch immer, Jenny hatte ihm eine Liste von Jeromes Freunden zusammengestellt, nebst Fotos. Aber keines davon ähnelte auch nur im Entferntesten der Frau, die Harry vor Jeromes Zimmer im Krankenhaus über den Weg gelaufen war. Es handelte sich also ganz offensichtlich um eine enge Freundin oder Kollegin Jeromes. Warum sonst hätte sie dort sein sollen?
Das Telefon klingelte.
»Hi, Harry, ich bin’s nochmal, Jenny.«
Harry brummte.
»Ich habe die beiden über einen Kontakt bei Agence France Press aufgespürt«, sagte sie. »Er ist bei einer Frau untergekommen, einer Anne Gaillac. Sie ist Professorin und leitet das Seminar für Politwissenschaften an der Sciences Po. Steht NROs hochkritisch gegenüber. Hat letztes Jahr ein Buch zum Thema geschrieben. Kam bei der Presse gut an. Auch wenn es den NROs nicht gefiel.«
»Was hat sie denn über die zu sagen?«
»Also im
Guardian
hieß es: ›Anne Gaillac bietet eine längst fällige Kritik der globalen Hilfsindustrie, die von einer Handvoll NROs bestimmt wird, die die öffentliche Wahrnehmung weltweiter Armut prägt. Ihrer Argumentation zufolge zwingt uns die Hilfselite ein veraltetes Entwicklungsmodell auf der Basis von Almosen auf, das Abhängigkeit und Armut nur fördern kann. Hilfsorganisationen sind ihrer Ansicht nach
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