Die sonderbare Buchhandlung des Mr. Penumbra (German Edition)
meinem Typografieseminar definitiv nicht beigebracht.
»Manutius war überzeugt, dass sich in den Schriften der Klassiker tiefe Wahrheiten verbargen – darunter die Antwort auf die Frage aller Fragen.«
Es folgt ein bedeutungsschweres Schweigen. Ich räuspere mich. »Was ist … die Frage aller Fragen?«
Kat haucht: »Die Frage ewigen Lebens?«
Penumbra dreht sich um und sieht sie an. Er macht runde, strahlende Augen und nickt zustimmend. »Als Aldus Manutius starb«, sagt er leise, »haben seine Freunde und Schüler ihm sein Grab mit Büchern gefüllt – Ausgaben von allem, was er je gedruckt hat.«
Der Wind draußen rüttelt heftig an der Tür.
»Das taten sie, weil das Grab leer war. Als Aldus Manutius starb, gab es keine Leiche.«
Penumbras Sekte hat also auch einen Messias.
»Er hinterließ ein Buch namens C ODEX V ITAE – Buch des Lebens. Es war chiffriert, und Manutius hat den Schlüssel nur einem einzigen Menschen gegeben: seinem wunderbaren Freund und Partner, Griffo Gerritszoon.«
Korrektur: Seine Sekte hat einen Messias und einen ersten Jünger. Aber wenigstens ist der Jünger ein Designer. Das ist cool. Und Codex Vitae … Das habe ich schon mal gehört. Aber Rosemary Lapin hat doch gesagt, die Bücher der Ladenhüterabteilung seien Codices Vitae . Verwirrend –
»Wir, die Schüler des Manutius, haben seit Jahrhunderten daran gearbeitet, seinen Codex Vitae zu entschlüsseln. Wir glauben, dass er alle Geheimnisse enthält, die er beim Studium der Klassiker entdeckt hat – allen voran das Geheimnis ewigen Lebens.«
Regen klatscht gegen das Fenster. Penumbra holt tief Luft.
»Wir glauben, wenn dieses Geheimnis endlich gelöst ist, wird jedes Mitglied des Ungebrochenen Buchrückens, das je gelebt hat … zu neuem Leben erweckt.«
Ein Messias, ein erster Jünger und ein Himmelreich. Ich setze Häkchen, Häkchen, Doppelhäkchen. Penumbra bewegt sich in diesem Moment heftig schwankend an der Grenze zwischen entzückend komischem Kauz und komischem Kauz. Zwei Dinge geben den Ausschlag für entzückend: erstens das ironische Lächeln, das nicht das Lächeln eines Gestörten ist, und Mikromuskeln können nicht lügen; zweitens der Ausdruck in Kats Augen. Sie ist hingerissen. Ich schätze mal, dass Leute an seltsamere Dinge glauben als das hier, oder? Präsidenten und Päpste zum Beispiel.
»Von wie vielen Mitgliedern sprechen wir?«, fragt Neel.
»Nicht so viele«, sagt Penumbra, schiebt seinen Stuhl zurück und rappelt sich auf, »als dass sie nicht in einen einzigen Raum passen würden. Kommt, meine Freunde. Der Lesesaal erwartet uns.«
CODEX VITAE
W ir laufen durch den Regen und teilen uns einen großen schwarzen Schirm, den wir uns vom Dolphin and Anchor geliehen haben: Neel hält ihn über uns – der Krieger hält immer den Schirm –, während Penumbra in der Mitte geht und Kat und ich uns rechts und links bei ihm einhaken. Penumbra beansprucht nicht viel Platz.
Wir gelangen an den dunklen Eingang. Dieser Ort könnte sich von der Buchhandlung in San Francisco nicht deutlicher unterscheiden: Wo bei Penumbra eine breite Front aus Schaufenstern ist, durch die warmes Licht strömt, sind hier nackte Steinwände und zwei trübe Funzeln. Penumbras Laden ist einladend. Dieser hier sagt so viel wie: Kommen Sie lieber nicht rein.
Kat hält die Tür auf. Ich folge als Letzter, und beim Hineingehen drücke ich kurz ihr Handgelenk.
Auf den alltäglichen Anblick, der uns erwartet, bin ich nicht gefasst. Ich hatte mit Wasserspeiern gerechnet. Stattdessen bilden zwei niedrige Sofas und ein quadratischer Glastisch einen kleinen Wartebereich. Klatschmagazine sind fächerförmig auf dem Tisch ausgelegt. Direkt vor uns befindet sich ein schmaler Empfangstresen, hinter dem der junge Mann mit rasiertem Kopf sitzt, den ich heute früh auf dem Gehweg gesehen habe. Er trägt eine blaue Strickjacke. Über ihm, an der Wand, verkünden viereckige Sans-Serif-Großbuchstaben:
F L C
»Wir sind noch mal da, um Mr. Deckle zu sprechen«, sagt Penumbra zu dem Empfangsmenschen, der kaum aufschaut. Weiter vorn ist eine Milchglastür, und Penumbra führt uns hindurch. Ich lauere immer noch auf Wasserspeier, aber nein: Wir betreten ein grau-grünes Stillleben, eine coole Savanne aus breiten Monitoren und niedrigen Trennwänden und geschwungenen schwarzen Drehstühlen. Es ist ein Großraumbüro. Es sieht genauso aus wie das von NewBagel.
Neonlampen summen hinter der Deckenverkleidung. Schreibtische sind zu
Weitere Kostenlose Bücher